Der Riss, der durch die englische Gesellschaft geht, ist hier zu sehen. Die Bildmitte trennt zwei Welten, links die jungen Herren mit Zylinder, die zu einer Public School gehen, rechts die Jungens, die zu der sozialen Schicht gehören, die der Engländer working class nennt. Zwanzig der englischen Premierminister seit Robert Walpole waren in Eton, das will schon etwas heißen.

Wenn man in Eton war und Premierminister wird, dann sieht man im Frack mit Seidenstrümpfen neben der Königin so aus wie hier Anthony Eden. Winston Churchill hat auch den Frackmit Seidenstrümpfen getragen, als er die Königin zu seinem Abschied als Premierminister in die Downing Street 10 eingeladen hatte. Die Seidenstrümpfe sind wichtig, weil man dann das blaue Band des Hosenbandordens umbinden kann, mit einer Frackhose ginge das nicht. Anthony Eden hat die Karriere gemacht, die wir von einem Eton Schüler erwarten. Der Sohn eines Baronets war Hauptmann im Ersten Weltkrieg, bekam das Military Cross und studierte danach in Oxford am Christ Church College, sieben englische Premierminister waren da auch.

Aber Eton und Oxford sind keine Garantie, dass sie einen englischen Gentleman mit Stil hervorbringen. Wir haben da im Augenblick ein Gegenbeispiel, der Herr heißt Boris Johnson. Wir können ziemlich sicher sein, dass er niemals in einem Frack mit Seidenstrümpfen neben der Königin stehen wird. Und den Hosenbandorden wird er auch nie bekommen. Eleganz, Stil und gutes Benehmen sind seine Sache nicht. Die finden wir eher bei Sir John Major, dem ersten konservativen Premier, der nicht aus einer wohlhabenden Familie kam, und der nicht Eton und Oxford in seine Biographie schreiben konnte. Er hat für eine classless society geworben, wovon die Engländer immer noch soweit entfernt sind, wie unter dem ersten Premier Robert Walpole im 18. Jahrhundert. John Major hat Boris Johnson in den letzten Jahren immer wieder scharf kritisiert, er kann das tun, er ist ein ehrlicher Mann. Das kann von Johnson niemand sagen.

Politik und Stil, geht das zusammen? Sie können auf dieem Photo sehen, dass diese Dame aus einer anderen Welt kommt als Boris Johnson. Sie heißt Millicent Fenwick und wurde heute (25.2.2022) vor einhundertzwölf Jahren geboren. Einer ihrer Mitarbeiter hat sie die Katharine Hepburn of politics genannt. Und gesagt: With her dignity and elegance, she could get away with saying things others couldn’t. Das sind Wörter, die man in der Politik selten hört,  dognity und elegance. Fenwick, die drei Sprachen fließend beherrschte, besuchte eine vornehme Privatschule und die Columbia University. Sie war Model für Harper’s Bazaar und vierzehn Jahre Redakteurin der Zeitschrift Vogue. 1948 erschien ihr Buch Vogue’s Book of Etiquette, das sich mehr als eine Million mal verkaufte. Der Kirkus Reviewschrieb 1948: 

This is a mammoth — and with the prestige of the Vogue name, it should roll up a substantial- and permanent- sales record. Taking into consideration the new and more human approach to the subject, the revolutionary changes of the last 20 years, the author presents her work as a new standard, based on what millions now accept. Good taste is a matter of feeling as well as knowing, but an authoritative reference book on established custom and procedure backs up feeling with knowledge. She discusses under Winners in General a wide range of topics, from manners in public places to manners on the job, with table manners, tipping, clubs, personal publicity, word usage as only a few of the things covered. Subsequent sections take up specifically Ceremonies and Events, Weddings, Household Customs, Furnishing a House, Entertaining. There is inevitably some overlapping and repetition. There’s a tendency to direct a good deal of the text to the monied classes. But the facts are there, in friendly, readable, practical form.

Nach dem Leben in der Modewelt wurde sie Politikerin und Diplomatin. Bei den Republikanern, weil ihr Vaterauch Republikaner gewesen war. Sie passte mit ihrer liberalen Haltung nicht so ganz in die Partei. Walter Cronkite hat sie das Gewissen des amerikanischen Kongressesgenannt. Sie setzte sich für die Menschenrechte und für die Rechte der Frauen ein. Sie war eine Bürgerrechtlerin und bewunderte Martin Luther King. Und ja, sie rauchte Pfeife. Auch im Repräsentantenhaus des Bundesstaates New Jersey. Die Republikanische Partei, die heute zu einem Trump Fan Club heruntergekommen ist, würde sie ausstoßen. Haben sie doch letztens ihre Mitglieder Cheney und Kinzinger gerügt, weil dieses eine persecution of ordinary citizens engaged in legitimate political discourse betrieben hätten. Mit legitimate political discourse ist hier der Sturm auf das Capitol gemeint. Ein Spaziergang, sozusagen.

Es wäre schön, wenn es in der Politik mehr Menschen wie Millicent Fenwick geben würde. Und weniger Leute wie Boris Johnson.

Das Pferd hier heißt Sir Tatton Sykes, der Herr, der es am Zügel führt, heißt auch Sir Tatton Sykes. Er ist der vierte Baronet Sykes, er ist als Pferdezüchter in ganz England berühmt. Das Pferd, das seinen Namen trägt, hat gerade das St Leger Rennen gewonnen. Interessant ist die Kleidung des Baronets, er wird einundneunzig Jahre alt werden und bis zu seinem Tod im Jahre 1863 die Kleidung tragen, die im 18. Jahrhundert modern war.

Ich komme auf die Sykes Familie (hier noch einmal Sir Tatton), nicht weil ich nach dem Post Bräutigam unbedingt über englische Rennpferde schreiben wollte, aber es hat doch etwas mit diesem Post zu tun. Als ich über das Pferd mit seinem Bräutigam im Kostümschrieb, hatte ich als erstes das Buch Below Stairs: 400 years of servants‘ portraits aus dem Regal geholt. Das ist der Katalaog von Giles Waterfield zu einer Ausstellung in der National Portrait Gallery. Ich habe den Katalog schon vor neun Jahren in dem Post Thomas Gainsborough erwähnt. Es war die erste Ausstellung in England, die den Portraits von Dienern und Bediensteten gewidmet war, die groomsvon Rennpferden kamen da auch drin vor.

In den Post Gainsborough im Jahre 2013 habe ich erwähnt, dass der Kunsthistoriker Giles Waterfield, ehemaliger Direktor der Dulwich Picture Gallery, auch noch Romane schreibt. Seinen zweiten Roman The Hound in the Left-Hand Corner habe ich schon mehrfach an Kunsthistoriker verschenkt. In dem Buch Below Stairs gibt es ein Portrait von Sir Richard Sykes mit seinem Butler von dem Maler Simon Elwes. Elwes ist ein berühmter Mann, der die Großen und Mächtigen der Welt gemalt hat, er ist eine Art John Singer Sargent der dreißiger Jahre. Er war der Lieblingsmaler von Queen Mom, und er hat auch die junge Elizabeth gemalt, als sie Königin wurde. Hier hat er 1942 den Generalleutnant Robert Stone portraitiert, der gerade der Oberkommandierende der britischen Truppen in Ägypten geworden ist. Beim Kriegsausbruch war Elwes in die Welsh Guards eingetreten und wurde später zu den 10th Royal Hussars versetzt. Nach mehreren Schlachten in Afrika war das Oberkommando der Armee der Ansicht, dass der Oberstleutnant Elwes als Maler für England bedeutender sei denn als Gardeoffizier und machte ihn zum war artist.

Im Jahr 1936 hat er zwei wichtige Bilder gemalt. Das eine ist das Portrait von Sir Richard Sykes, dem siebten Baronet, einem Lebemann und Nichtsnutz. Das andere ist das Bild des Duke of York als Colonel-in-Chief der 11th Hussars. Wer die 11. Husaren sind, das weiß ich, bei denen war ich mal. Lesen Sie mehr in dem Post Winston Churchill. Hier auf dem Photo ist Elwes dabei, den Duke of York zu malen. Als das Bild fertig ist, hat der Duke einen neuen Titel. Da ist sein Bruder gerade als Edward VIII zurückgetreten, und der Duke ist als George VI König von England. Auf einer Internetseite der 11. Husaren können wir über die Uniform lesen: The uniform here is the levee dress which differs from full dress in that the breeches are of thinner material and tight-fitting. The stripe down the side of the breeches is a single strip of gold gimp. The black hessian boots are patent leather with built-in wrinkles and gold gimp round the top edge as well as the gold boss. The dramatic cloak is dark blue with a crimsom collar which does not show up clearly here.

Das andere Bild von Elwes hätte ich nicht gekannt, wenn ich den Katalog Below Stairs nicht gelesen hätte. Es hat für Simon Elwes eine persönliche Bedeutung. Zum einen, weil er mit dem siebten Baronet verwandt ist, zum anderen, weil er 1967, als er Mitglied der Royal Academy wurde, das 1936 gemalte Bild als diploma work der Royal Academy überlässt. Dieser Sir Richard Sykes auf dem Bild kommt gerade als Master of the Middleton Hunt von der Fuchsjagd zurück und lässt sich im Speisesaal von Sledmere House von seinem Butler Mr Cassidy ein Getränk servieren, während im Hintergrund ein Diener die gerade abgelegte Kleidung hält. Ein Hund liegt vorne rechts erschöpft am Boden. Der Kunstistoriker Anthony Blunt, von dem noch niemand weiß, dass er ein russischer Spion ist, beklagte im Spectator, dass in der Royal Academy nur noch Society Portraits zu sehen sein, gestand aber zu: the finest specimen of all, is, without doubt. Simon Elwes’s portrait of Sir Richard Sykes complete with pink coat, butler, and family seat.

Das ist der zweite Baronet Sir Christopher Sykes mit seiner Gattin und ihrem Lieblingshund, gemalt von George Romney (sein Sohn wird sich von Thomas Lawrence malen lassen). Christopher Sykes hatte Sledmere House umbauen lassen, und der berühmte Landschaftsarchitekt Capability Brown hatte den Entwurf für den vier Quadratkilometer großen Park geliefert. Der siebte Baronet erbt nach dem Tod seines Vaters, des Colonels Sir Tatton Benvenuto Mark Sykes, den Landsitz, sonst nichts. Er lebt von den Einnahmen aus dem Gestüt, das es seit den Tagen von Sir Tatton Sykes immer noch gibt. Er hat eine katholische Privatschule besucht, Eton, Oxford und Cambridge sind für ihn Fremdwörter. Sein Bruder Christopher Hugh Sykes war in Oxford und wird Schriftsteller, seine Schwester Angela wird Bildhauerin und Malerin. 

Sledmere House hat zwar eine eindrucksvolle Bibliothek, aber ich glaube, unser Baronet benutzt sie nicht. Er ist von seinen Geschwistern der einzige, der keinerlei intellektuelle und kulturelle Interessen hat. Obgleich er kein Geld hat, führt er das Leben eines Playboys. Sein Vater, der ein verdienstvoller Mann war, hätte sich für ihn geschämt. Vor allem, wenn er erfahren hätte, dass sein Sohn in Wentworth rausgeflogen ist und auf Lebenszeit verbannt wurde, weil er im Park einen Fasan überfahren hatte und den toten Vogel einer jungen Frau ins Bett gelegt hatte. Engländer nennen so etwas einen practical joke, aber mit einem Gentleman hat so etwas nichts zu tun.

Und dann ist da noch diese Sache mit dieser jungen Frau. Sie heißt Doris Duke und ist die reichste Frau der Welt. Der angesäuselte Baronet fällt in ihrer Limousine über sie her und will ihr an die Wäsche. Ihr Chauffeur und ein Personenschützer, der der Millionenerbin in einem zweiten Wagen gefolgt war, holen den Baronet aus dem Auto, verpassen ihm eine Abreibung und lassen ihn am Straßenrand liegen. Sir Richard will sich unbedingt rächen. Auf einer Party von Lady Diane Cooper, der Gattin von Duff Cooper, nimmt er der Amerikanerin die Lucky Strike aus dem Mund (es muss natürlich eine Lucky Strike sein, weil ihr die Fima gehört) und drückt sie auf ihrer Hand aus. Randolph Churchill will Sykes verprügeln, das Ganze artet zu einer Massenschlägerei aus, an der sich auch Cecil Beaton und Oliver Messel beteiligen. Es ist ein Tiefpunkt im Leben des siebten Baronet, der sich jetzt im Riviera Set bewegt und dieselben Leute kennt, die im Leben der Viscountess Castlerosse eine Rolle spielen. Wenn Sie den Post Schöne Beine gelesen haben, wissen Sie, wo wir gerade sind.

Und seien wir ehrlich, kann man das nicht schon alles in diesem Bild lesen? Oder vielleicht auch nicht. Simon Elwes hatte das Bild seines Schwagers als ein jeux d’esprit gesehen. Eine ironische Karikatur dessen, wie sich die Öffentlichkeit das Leben eines englischen Landadligen vorstellt. Aber Sir Richard fand das überhaupt nicht witzig. Ich weiß nicht, was sein Butler Mr Cassidy dazu gesagt hat. Heute gibt es in Sledmere House keinen Butler mehr. Zwanzigtausend Menschen besuchen das stately home und den Park jedes Jahr. Das Bild vom siebten Baronet können sie da nicht sehen, das hängt in der National Library. Aber man kann da heiraten und sich anschließend photographieren lassen.

Und da ich schon bei der Sykes Familie bin, sollte ich diesen Herrn noch vorstellen. Das ist Christopher Simon Sykes, der zweitälteste Sohn des siebten Baronets. Im Gegensatz zu seinem Vater war er in Eton, jetzt ist er Photograph und Schriftsteller. Er hat die Rolling Stones auf ihrer Amerika Tournee photographiert, das hat ihn berühmt gemacht. Er war auch der Ghostwriter für Eric Claptons Autobiographie und hat eine zweibändige Biographie von David Hockney geschrieben. Er photographiert sich seit Jahren durch Englands Parks und Landsitze, Sledmere House, wo er aufwuchs, ist auch dabei. Und über das Haus und die Sykes Familie hat er 2005 ein Buch geschrieben: The Big House: The Story of a Country House and its Family. Ist sehr amüsant zu lesen. Pflichtlektüre für meine anglophilen Leser.

Sie haben lange nichts mehr über Mode geschrieben, sagte mir ein Leser. Das Gefühl habe ich auch, auch wenn es von Zeit zu Zeit etwas über Mode gab. Wenn ich in meinen WordPress Themenblog Kleiderschrank gucke, der ja leider wegen WSoD nicht weitergeführt wird, dann gab es in diesem Jahr Posts wie BlaustrümpfeOrchideender Oberrock und Coco Chanel. Gut, früher war es mehr. Es gab allerdings auch immer andere Stimmen, ein Leser schrieb, er würde in meinem Blog alles lesen, außer wenn ich über Hemden und Schuhe schriebe. Ich bin gerade dabei, Hemden in den Schränken aufzuräumen, eine echte Aufgabe angesichts meiner Sammlung.

Ich fand eins im Schrank, an das ich mich kaum erinnerte, zog es an, es passte hervorragend. Es ist von der englischen Firma Raymond Cleeve. Meine Mutter hatte es mir mal von Terner in Hannover mitgebracht. Das war ein Laden, den sie liebte, der hat hier schon einen Post, der Fuchsjagd heißt. Meine Mutter ist lange tot, Terner gibt es nicht mehr, aber das Hemd ist noch da. Ich guckte bei ebay nach Cleeve Hemden, fand eins zum Sofortkauf für vier Euro und kaufte es. Und beschloss, mal eben einen Post über englische Oberhemden zu schreiben. Früher habe ich beinahe nur englische Hemden getragen, wenn ich mir jetzt das angucke, was da auf der Leine zum Bügeln hängt, dann sind das beinahe alles Italiener.

Raymond Cleeve, der seine Hemdenfabrik in Chard in Somerset hatte, begann bei der Firma British Van Heusen Co Ltd. Die war 1928 in Taunton in Somerset gegründet worden. In Somerset saß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein großer Teil der englischen Hemdenindustrie. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Firma Fox, die den berühmtesten Flanellstoff der Welt herstellt, auch in Somerset zuhause ist. Die British Van Heusen, die einen Royal Warrant als Hoflieferant besaß, hat nichts mit dem amerikanischen Phillips-Van Heusen Konzern zu tun. Dieses Van Heusen war nur ein Markenname der Firma Harding, Tilton and Harley Ltd, weil John Manning van Heusen um 1910 einen halbwegs weichen Kragen erfunden hatte.

Der allerdings noch nicht Teil des Hemds war, so wie hier sah ein British Van Heusen Hemd in den zwanziger Jahren aus. Man knöpfte den Kragen an das Hemd und kaufte noch einen Ersatzkragen dazu. Solche Hemden hat man bis 1971 produziert, Engländer sind ja traditionell. Der englische Politiker Enoch Powell hat erst im hohen Alter bei seinem Schneider erfahren, dass es schon seit langem Hemden mit angesetztem Kragen gibt.

Die Hemden, wie wir sie heute kennen, sind eine englische Erfindung. Im Jahr 1871 hat sich die Firma Brown, Davis & Co. aus Aldermanbury die Knopfleiste patentieren lassen. Vorher konnte man ein Hemd nicht aufknöpfen, man zog es über den Kopf, so wie wir heute ein Unterhemd anziehen. Es ist die 1898 gegründete Firma T.M. Lewin, die um 1900 dieses coat shirt, wie es damals genannt wird, auf den Markt bringt. Hundertzwanzig Jahre später muss T.M. Lewin seine 66 Läden in England aufgeben und seine sechshundert Angestellten entlassen. Die Firma ist weiterhin im Onlinehandel tätig.

Raymond Cleeve hört bei Van Heusen auf, als es mit denen bergab geht. In seiner Fabrik in Chard, was nicht so weit von Taunton weg ist, werden weiterhin Hemden mit anknöpfbaren Kragen hergestellt, erst ab 1976 gibt es die Oberhemden, wie wir sie kennen. Die Firma wuchs und wuchs, und 1998 bezog sie ein neues Gebäude. Sogar Prinzessin Anne kam zur Einweihung. Als es mit der Firma zuende ging, wurde der Name (und die Fabrik in Chard) von Michael Drake gekauft. Der hatte 1977 mit Scarves, Shawls and Plaids angefangen, ich habe zwei Schals von der Firma, die wirklich luxuriös sind. Dann kamen noch Schlipse hinzu und dann alles andere. 2013 kaufte man die Firma Rayner and Sturges, die letzte Firma, die fabrikmäßig Hemden Made in England herstellte, und die einst Ede & Ravenscroft, Dunhill, Paul Smith und Crombie belieferte. Rayner and Sturges wurde nach Chard in die alte Fabrik von Raymond Cleeve verlegt.

Als Emma Willis im Jahre 2000 ihren Laden für Oberhemden in der Jermyn Street eröffnete, hatte sie auch Krawatten von Drake’s im Angebot. Sie hatte Kunst an der Slade School of Fine Art studiert, hatte dann aber beschlossen, dass ihre Zukunft im Hemdennähen läge. Sie hat klein angefangen, heute ist sie groß im Geschäft. Sie macht die Hemden für Huntsman, und stattet Daniel Craig, Hugh Grant, Benedict Cumberbatch und diesen Herrn hier aus. Einen Royal Warrant als Hemdenmacherin von Charles hat sie noch nicht, aber ihr Antrag läuft. Dieses Photo wurde gemacht, als Charles ihre Fabrik in Gloucester besuchte. 

Sie ist stolz darauf, dass ihre Hemden Made in England sind, viele große Namen der Jermyn Street können das nicht mehr von sich sagen. Ihre Stoffe bezieht Emma Wills seit fünfundzwanzig Jahren von der Schweizer Firma Alumo, englische Weber gibt es ja nicht mehr so viele. Thomas Mason und David & John Anderson gehören längst dem Italiener Albini. Im 19. Jahrhundert wurde in England die Hälfte der Baumwollstoffe der Welt gewebt, zu den Bedingungen wollen wir lieber nichts sagen. Ein Gedicht wie Song of the Shirt konnte nur in England entstehen.

Willis stellt sich im Internet erstklassig dar, einen Blog hat sie auch. Sie tut auch gute Werke (und redet darüber), zum Beispiel mit ihrem Projekt Style for Soldiers. Während des Höhepunkts der Corona Welle hat sie den National Health Service durch ihr Project Style for Surgeons mit Kitteln aus erstklassigen Schweizer Vollzwirn beliefert. Das ist etwas anderes als die Firma van Laack, die 100.000 ihrer an das Land Nordrhein-Westfalen gelieferten Kittel zurücknehmen musste. Den Deal mit den Kitteln hatte der Firma Armin Laschets Sohn vermittelt, der Mode Blogger ist und auf der Gehaltsliste von van Laack steht.

Dass Turnbull & Asser auch eine Fabrik in Gloucester haben, das steht hier schon 2013 in dem Post Haikragen, sie haben aber auch noch eine Fabrik in Sidcup. Ich hatte in den siebziger Jahren mal eine schwere Turnbull & Asser Phase, ich liebte diese lappigen Manschetten mit den drei Knöpfen. Dass Mr Fish das Hemd mit der umgestülpten Manschette (die Cocktail Cuff genannt wird) für James Bond in Dr No gemacht hat, das weiß ich natürlich, Sie können das in dem Post Haikragen und in dem Post Agentenmode sehen. Es ist immer noch im Programm. Das Hemd, das Daniel Craig in Casino Royale getragen hat, kostet 410 Pfund. Dieses schöne Haus aus dem Georgian Age ist das Bearland House in Gloucester, es beherbergt die Fabrik von Emma Willis. Turnbull & Asser hat in Gloucester nur einen häßlichen Zweckbau in einem Industriegebiet. Wenn Sie alles über Turnbull & Asser wissen wollen, dann klicken Sie hier einmal →Turnbull & Asser an. Ein bisschen Zeit müssen Sie für die opulente Show von Bildern und Videos schon mitbringen.

Karl Lagerfeld ließ sich mehr als tausend Hemden von Hilditch & Keymachen, er schickte ihnen Zeichnungen wie diese, und sie machten ihm diese weißen Hemden mit dem hohen Kragen. Ich hatte mal ein Hilditch & Key Hemd, aber da war der Kragen in kürzester Zeit durchgescheuert, Qualität war das nicht. Ihre Hemden sollen jetzt aus Italien kommen, vielleicht sind die ja besser. Formelle englische Oberhemden sind auch nicht jedermanns Sache. Ich erinnere mich noch an die wunderbare Kolumne im Observer von Sue Arnold, wo sie in der Jermyn Street für ihren Mann ein Hemd kaufen will. Das war in den siebziger Jahren geschrieben, als Sue Arnold noch dopenahm, und London das Swinging London war. Da trug man Blümchenhemden und schrille Sachen aus der Carnaby Street, aber keine formellen englischen Hemden mit steifem Kragen.

Die 1984 gegründete Firma  Thomas Pink war auch in der Jermyn Street, wie auch der Billiganbieter Charles Tyrwhitt (designed in London made in Vietnam), der Straßenname edelt das Produkt. Tyrwhitt war der erste Händler, der sich konsequent auf den deutschen Markt orientierte. Inzwischen schalten aber auch andere Händler wie zum Beispiel Hawes & Curtis deutschsprachige Anzeigen im Internet. Thomas Pink wurde 1999 von Louis Vuitton aufgekauft, dann ließen sie das Thomas weg und waren nur noch Pink, jetzt sind sie ganz weg. Der Laden in der Jermyn Street ist geschlossen. Die Qualität von Emma Willis oder Turnbull & Asser hatten ihre Hemden nie, Made in England waren sie auch nicht. Zuerst kamen ihre Hemden aus Irland, später aus Vietnam (wo auch die van LaackHemden gefertigt werden). Ich besitze eins von Thomas Pink (in pink), aber ich trauere der Firma nicht nach. 

Auch andere Firmen, die schon lange in der Jermyn Street sind, haben Probleme. Die 1865 gegründete Firma New & Lingwood, die zuerst in Etonbeheimatet war, ist 2015 von einer amerikanischen Investorengruppen namens Pop Capital gekauft worden, sie haben ihr Personal verjüngt, um eine jüngere Klientele anzuziehen, aber finanziell geht es ihnen nicht so gut. Ihr bisheriger Direktor, der Südafrikaner Anthony Spitz, der New & Lingwood 1992 kaufte, blieb nach dem Deal mit Pop Capital weiterhin Geschäftsführer.

Niemand weiß genau, wer ihre Hemden macht, sie sollen ihre Fabrik in Essex geschlossen haben. In den 1990er Jahren haben sie Bowring und Arundelaufgekauft, den letzten Hemdenmacher auf der Savile Row, der noch Handarbeit lieferte. Als die Gabi zum erstenmal nach London fuhr (wo die schuhverrückte Frau im Laden von Manolo Blahnik beinahe ohnmächtig wurde), hat sie mir ein New & Lingwood Hemd mitgebracht. Dem fielen beim Auspacken schon zwei Knöpfe ab, Qualität sieht anders aus.

Ich kaufte keine Engländer mehr, ich trug Hemden von Stenströms und Italienern wie Truzzi, Orian, Fray und Lilian Fock. Ich weiß auch nicht, was aus der Jermyn Street wird, der Brexit hat die englische Modeindustrie schwer angeschlagen. Boris Johnson interessiert das kaum. New & Lingwood hatte als Hemdenlieferant der jungen Gentlemen an der Privatschule Eton begonnen. Boris Johnson war in Eton, aber er ist kein Kunde von New & Lingwood. Er ist auch kein Gentleman.

Hat ein englischer Premierminister jemals so ausgesehen? Vanessa Friedman von der New York Times hat von einem silly stylegesprochen, der Johnson auszeichnet. Auf der Weltklimakonferenz in Glasgow erschien er in einem Anzug von Oliver Brown, den er für vierunddreißg Pfund pro Tag bei der Firma My Wardrobe HQ gemietet hatte. Seine Frau hatte bei der Firma auch ihr Hochzeitskleid gemietet. Wer leiht sich schon einen Anzug? Man kann sich bei Moss Bros einen Morning Coat leihen, wenn man zu einer Hochzeit muss, aber sonst geht das nun gar nicht.

Das britische GQ Magazin hatte nur Hohn für den Premierminister übrig: That’s right, Bojo – AKA Worzel Gummidge 2.0 – has finally made a good sartorial decision. Oft derided by the likes of, well, us for wearing the kind of outfits that a blind clown would struggle to make look quite so terrible (remember the floral short and Dennis The Menace beanie combo he wore to go running in 2017? We do), Johnson’s decision to wear a second-hand suit at the summit, which is taking place in Scotland’s second city until 12 November, is perhaps the smartest (/only?) piece of sartorial virtue signalling we’ve ever seen from the man at Number Ten. Er hat Schwierigkeiten mit Hemden, das weiße Hemd, das er zur Hochzeit trug war ungebügelt, und offenbar kann er sich nicht einmal die Manschetten richtig zuknöpfen.2015, als er auf seinem Weg nach oben war, hat er einen Stapel Oberhemden von Turnbull & Asser geschenkt bekommen, die trägt er heute wahrscheinlich zum Joggen. 

Noch mehr Hemden in den Posts: OberhemdenPapierkragenHandschuhknopfRalph Lauren Purple LabelHaikragenJermyn Streetgatsby-weißTab KragenBielefelder QualitätshemdenNordstromfliegende TaubenKieler Chic

Im Jahre 1995 feierte der Bremer Herrenausstatter Stiesing das hundertjährige Bestehen mit einer Festschrift. Komm in die Stadt, und werde Kaufmann: 100 Jahre Stiesing in Bremen wurde von zwei in Bremen bekannten Journalisten, Hermann Gutmann, Hermann und Günther Obitz geschrieben. Beide hatten schon zahlreiche Bücher veröffentlicht, von Obitz stammt auch ein Nachruf auf den Bremer Unternehmer Wolfgang Ritter, der einst Kokoschka beauftragte, den Bremer Rathausmarkt zu malen.

Das 126-seitige Buch, das sich noch antiquarisch finden lässt, ist reichhaltig illustriert. Eine Häfte des Buches handelt von Stiesing und Bremen, der Rest ist Werbung. Man kann das Buch als ein Who is Who der internationalen Mode lesen, alle berühmten Firmen der Konfektion sind hier vertreten. Manche Firmen, die 1995 noch groß waren, gibt es heute nicht mehr. Toni Gard ist inzwischen Modegeschichte, von DAKS hört man auch nicht mehr viel, und von Baldessarini existiert nur noch der Name, nicht mehr die Qualität. Die 1921 gegründete italienische Hemdenfirma Lorenzini aus Merate ist auch in dem Band vertreten.

Und das mit zwei Seiten, eine ganzseitige Anzeige und eine Seite Text, der uns informiert: In Italien gibt es sie noch immer, die kleinen, feinen Manufakturen, die auf das Erzeugen hoher Qualität spezialisiert, unbeirrt der Tradition folgen. Die Namen dieser Garanten des Außergewöhnlichen raunen sich Connaisseurs zu. Erlesenes – das weiß man- muß nicht jedermann bekannt sein. Es genügt, unter Kennern berühmt zu sein. Lorenzini ist es. Wer hier raunt, ist nicht das Autorengespann Gutmann und Opitz. Das ist ein anderer, der seinen Text mit Claus A. Froh signiert hat. Der Stiesing Kunde, der wie ich, den Band damals geschenkt bekam, hat mit dem Namen wahrscheinlich nicht viel anfangen können. Aber unter Kennern ist dieser Claus A. Froh berühmt, er ist, seinem Vorbild David Ogilvy folgend, zu einem der berühmtesten Männer der Werbung geworden. Von 1977 bis 1997 war er für die Lorenzini Werbung verantwortlich, die er weltweit zu schalten verstand. Seine Anzeigen finden sich schon 1978 im Spiegel und noch 1996 im New Yorker. Der Text aus der Stiesing Festschrift stand übrigens schon 1992 wortwörtlich im Spiegel. Claus A. Froh hat Lorenzini (und Aida Barni) zur Weltgeltung verholfen.

Stiesings Festschrift kam in einem Schuber, der in dunkelgrünem Tartanmuster gehalten war. Diesen Tartanhatte sich Stiesing extra bei Harrisons in Edinburgh entwerfen lassen. Die Anglomanie der Hansestädter treibt ja manchmal seltsame Blüten. Im Text von Claus A. Froh wird den Stiesing Kunden versichtert, dass nur wenige Geschäfte auserwählt seien, sich Deposito Lorenzini zu nennen, Stiesing gehöre dazu. Dabei waren die Hemden aus Merate damals keine Seltenheit, es gab sie überall. Bei Braun in Hamburg zum Beispiel, die wie Stiesing Mitglied im Masculin Modekreis waren. Es gab sie auch in Kiel, weil mein Freund Kelly, der mir mein erstes Lorenzini Hemd verkaufte, von Anfang an auf Italiener setzte. Es gab bei ihm Lorenzini, Truzzi, Orian und Guy Rover. Manche Marken blieben nicht lange, bei den Italienern gehörten immer Lieferschwierigkeiten zum Alltag. 

Mit diesem Angebot an Italienern war Kelly nicht allein. Eine neue Generation von Herrenausstattern setzte jetzt auf Italien. Da waren Dietmar Kirsch und Thomas Friese (Thomas-I-Punkt) in Hamburg und Uli Knecht bundesweit. Vor allem ist aber Dolf Selbach mit seinen Luxusläden in Düsseldorf, Berlin und Hamburg zu nennen, dem viele italienische Firmen wie zum Beispiel Aida Barni verdankten, dass man sie wahrnahm. Der Kunstsammler, den Andy Warhol portraitierte, kaufte nicht nur, was die Firmen ihm anboten, er ließ auch in Italien nach eigenen Entwürfen Kleidung herstellen. Manchmal auch in Deutschland, nicht alles, was ein Etikett Spezialanfertigung für Selbach trug, war erstklassig. Lorenzini hatte Selbach von Anfang an im Angebot, und Claus A. Froh textete im SpiegelDolf Selbach hat in Deutschland als erster bewiesen, daß Eleganz bequem sein kann … Mag sein, daß er deshalb die Herren Hemden von Lorenzini so schätzt, führt und – wie man sieht – selber trägt. 1999 verkaufte Selbach sein Unternehmen an die Eduard Dressler Firmengruppe, was den langsamen Untergang von Dressler bedeutete. Sie hatten sich finanziell übernommen. Selbachs Kunstsammlung wurde nach seinem Tod in Berlin versteigert.

Lorenzini hatte damals ja schöne Anzeigen. Aber die Zusammenarbeit mit Claus A. Froh hörte 1997 auf, und niemand weiß wirklich, was mit Lorenzini dann geschah. Im Jahre 2008 mussten sie ihre Hemdenfabrik in Nembro (Bergamo) schliessen. Wenn Sie sehen wollen, wie die verlassene Lorenzini Fabrik aussieht, dann klicken Sie ✺hier. Die Fabrik in Merate wurde 2015 geschlossen, sie beherbergt heute die Firma Permedica, die künstliche Hüftgelenke herstellt. Auf einer Anzeige im Internet aus dem Jahre 2017 kann man lesen, dass Lorenzini ab Januar 2018 wieder in den Geschäften vorrätig sein wird. Solche Botschaften hörte man damals auch als Philippe Brenninkmeijer Regent übernommen hatte. Wir wissen, was dann kam. Angeblich gibt es einen e-commerce, aber würde da jemand bestellen?

In Nembro hatte Massimo Pomari, der vierzehn Jahre bei Lorenzini gearbeitet hatte, vierzehn der sechsundsechzig arbeitslos gewordenen Näherinnen aus der Camiceria Lorenzini in seine kleine Firma Filo di fate srl übernommen. Die nähen jetzt bei ihm Herren- und Damenhemden, Pyjamas und Morgenmäntel. Die Hemden tragen den Namen Filo di fate, sind Made in Italy und sollen die gleiche Qualität wie Lorenzini Hemden haben. Man rechnet mit einer Produktion von 20.000 Artikeln pro Jahr. Die Firma ist bei Facebook präsent, ob ihre Hemden jemals in deutsche Läden kommen, weiß ich nicht. Aber mit Sätzen wie Lorenzini shirts have a distinct timelessness, and are renowned for their subtle elegance, as well as their unique and sophisticated detailsist es vorbei. 

Es gibt noch eine andere Firmengeschichte von Lorenzini, und das sind die Jahre ihrer Zusammenarbeit mit Ralph Lauren. Es ist nirgendwo nachzulesen, aber Fachleute gehen davon aus, dass Lorenzini für Lauren die Hemden Ralph Lauren Purple Label gefertigt hat. Die Hemden mit den violetten Etiketten wurden beworben mit dem Satz: Dedicated to the highest level of quality, Ralph Lauren Purple Label is the ultimate expression of luxury for today’s modern gentleman. So etwas konnte der Ralph Lifshitz aus der Bronx, der mit sechzehn seinen Namen in Lauren geändert hatte, natürlich nicht in China oder Vietnam herstellen lassen, die mussten schon das Made in Italy Label tragen. Lauren konnte sich natürlich nicht die Hemden von Truzzi oder Finamore machen lassen, das wäre zu teuer gewesen. Er suchte eine angeschlagene Manufaktur, die dankbar für Aufträge war. Ralph Lauren ist ein kleiner Gernegroß, der ein Gentleman sein möchte. Der englische Kritiker Stephen Bayley hat in Taste: The Secret Meaning of Things bösartig über ihn gesagt: How does a working-class Jew from Mosholu Parkway dare pass off the tribal costumes of the Ivy League as if he owned them?

Im Bereich der Herrenkonfektion hatten schon verschiedene italienische Firmen negative Erfahrungen mit Ralph Lauren gemacht. Zuerst ließ er Jacketts und Anzüge bei Nervesaherstellen, die gerade einer Pleite entgangen waren. Dann zog er weiter. Zur Sartoria Sant’Andrea, die auch als Saint Andrews fungiert, blieb da aber auch nicht lange, sondern wanderte zu Cantarelli. Von den Hemden von Laurens Luxuslinie habe ich fünf Stück, alle bei ebay oder dem Secondhand Laden Weltgewand gekauft. Das teuerste war 20,50 €, das preiswerteste kostete mich zehn Euro. Ob die Hemden wirklich die vier-, fünfhundert Euro wert sind, die Lauren dafür verlangt, das weiß ich nicht. Die Hemden sind von guter Qualität, sie haben gute Knopflöcher, aber keine handgenähten. Sie haben kleine Dreiecke (gussets) in der Seitennaht und das unterste Knopfloch ist quergestellt. Ist ein Qualitätszeichen, ahmt aber inzwischen jeder nach. Manche haben eine geteilte Schulterpasse (wie das Hemd im Absatz oben), andere nicht. Aber kein Hemd hat einen angepassten Musterverlauf, das wahre Qualitätszeichen von Luxushemden. Und man sollte vor einer Kaufentscheidung natürlich bedenken, dass man für den Ladenpreis eines Ralph Lauren Purple Label (the zenith in terms of artisanal quality) auch ein Hemd von Attolini, Finamore, Fray oder Lilian Fock bekommt.

Als die Bremer Baumwollbörse vor über hundert Jahren gebaut wurde, sah sie noch etwas anders aus, auf dem Turms des Kontorhauses war noch eine gotische Spitze. Der Entwurf des Gebäudes stammte von Johann Georg Poppe, der neben Heinrich Müller der berühmteste Architekt Bremens war. Müller, der auch die Bremer Börse am Markt baute (heute das Gebäude der Bürgerschaft), war schon einmal in diesem Blog, weil er in Vegesack die Villa Fritze gebaut hat. 

Der protzige Bau der Baumwollbörse, in dem die gleichen Geschäfte gemacht wurden wie in New Orleans auf diesem Bild von Degas, wies schnell Mängel im Material auf und bekam in den 1920er Jahren eine neue Fassade. Diesmal aus dem Wesersandstein der Obernkirchener Sandsteinbrüche; aus diesem Stein waren schon Jahrhunderte zuvor das Ratshaus und der Schütting gebaut worden. Und das Gewerbehaus und der Sockel des Rolands. Die Renovierungsarbeiten wurden dem Architekten Otto Blendermann übertragen, der hier schon einen Post hat und auch in dem Post Hohehorst vorkommt. Man will das Gebäude jetzt modernisieren, es hat eine Ausschreibung gegeben, aber so richtig glücklich ist man mit den preisgekrönten Entwürfen nicht.

Die Bremer Baumwollbörse beherbergt den gleichnamigen Verein, der die Wahrung und Förderung der Interessen aller am Baumwollhandel und an der Erstverarbeitung von Baumwolle Beteiligten zum Ziel hat. Seit dem Jahre 1906 sitzt ein Vertreter des Schweizer Spinner-, Zwirner- und Webervereins im Vorstand der Bremer Baumwollbörse. Das ist noch heute so, Peter Spoerry, dessen Familie seit 150 Jahren Baumwolle webt, ist eins der Bremer Vorstandsmitglieder. Hier ist er beim Betrachten von Baumwolle, nicht etwa im schweizerischen Glarus, sondern in der Karibik. 

Weil die Firma Spoerry da eine Plantage hat und unbestritten der Weltmarktführer bei West Indian Sea Island Cotton (WISIC) ist. Das ist nun das Feinste vom Feinsten, weil die Fasern der WISIC Baumwolle länger sind als die der feinsten Giza Baumwolle. Die meisten Sea Island Hemden, die auf dem Markt angeboten werden, sind allerdings nicht aus Sea Island Cotton, sondern aus ägyptischer Baumwolle. Peter Spoerry steht mit seiner Fabrik gut da, was man von seiner Konkurrenz, der Alumo AG, im Augenblick leider nicht sagen kann.

Denn die ist gerade von der Firma Cilander übernommen worden, der schon vorher Teile der Alumo gehört haben. Cilander veredelt Baumwolle und ist schon seit dem 19. Jahrhundert im Geschäft. Alumo, 1918 gegründet, hieß zuerst nach seinen Gründern Albrecht und Morgen, daraus wurde dann AluMo. Die Firma stellt nach eigenen Angaben die besten Baumwollstoffe der Welt her. Ich habe die Firma schon in dem Post englische Oberhemden erwähnt, weil Emma Willis auf den Stoff von Alumo schwört. Und auch italienische Luxusfirmen wie Finamore weisen darauf hin, dass der Stoff ihrer Hemden von Alumo kommt. Cilander und Alumo, das bedeutete bisher eine problemlose Kooperation, aber jetzt hat Cilander beschlossen, die Weberei in Appenzell aufzugeben. Fortan wird in Ägypten gewebt, in das Gebäude der Appenzeller Weberei wird wahrscheinlich ein Supermarkt einziehen. Die umtriebige Chefin von Alumo, Sandra Geiger, wird jetzt Schwierigkeiten haben, ihre Produkte mit dem Gütesiegel Swiss Madezu verkaufen. Und ✺Parties wie die zum hundertjährigen Bestehen der Firma wird es wohl erst einmal nicht mehr geben.

Dass die Schweiz zu einem Zentrum der Seiden- und Baumwollweberei wurde, hat etwas damit zu tun, dass Ludwig XIV das Edikt von Nantes widerrufen hat und hundertausende von Hugenotten Frankreich verlassen, die Schweiz wird zu einem ⇾Asylland. Brandenburg auch, wo der Große Kurfürst das Edikt von Potsdam erlässt, die calvinistischen Glaubensflüchtlinge werden ihm Preußen aufbauen. Es sind nicht nur diejenigen, die mit Tuchen und Stoffen umgehen können, die in der Schweiz eine Industrie begründen. Wären die Hugenotten nicht gewesen, dann hätten die Schweizer wohl keine Uhrenindustrie. Der aus Frankreich geflohene Industrielle Daniel Vasserot gründet in Genf die ersten Webereien. Und auch die Kattun- und Calicodruckerei siedelt sich hier an. Um 1720 gibt es in Genf schon sieben Fabriken, die bedruckte Baumwolle (auch ⇾Indiennes genannt) herstellen. 1785 wurde das Werk Fabrique-Neuve in Cortaillod, Neuchâtel, der größte Hersteller von ⇾Indiennes in Europa. Es produzierte damals 160.000 der bunt bedruckten Stoffbahnen im Jahr. Der schöne Stoff auf diesem Bild wurde wohl um 1800 in Neuchâtel gewebt.

Von Schweizer Oberhemden war bisher noch keine Rede, die kommen aber noch. Zuerst kommen Taschentücher, Bett- und Tischwäsche und Trikotagen. Die Firmen Zimmerli und Calida sind ja weltweit für ihre Qualität bekannt, die Firma Lehner für ihre Taschentücher auch. Und das Glarner Tüchli lebt immer noch. 

Wir sollten auch die Seidenweberei nicht vergessen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts nannte man den Ort Horgen im Kanton Zürich Klein-Lyon, weil es dort zehn Seidenwebereien gab. Die Baumwollwebereien, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen, sind heute zum größten Teil Industriegeschichte. Vieles wird jetzt von Historikern aufbereitet, wie zum Beispiel in diesem ausführlichen Artikel über die ⇾Spinnerei Felsenau 1864–1975 von Christian Lüthi, dem Vizedirektor der Universitätsbibliothek Bern. Wenn man genügend sucht, dann ist das Internet voll mit einzelnen Beiträgen zur Unternehmensgeschichte der Schweiz.

Eine der ersten Hemdenfabriken war die 1902 in Stabio gegründete Camiceria Realini. Pietro Realini war nicht nur der Fabrikbesitzer, er war auch der Bürgermeister des Ortes. Die Devise, die er ausgab war: Il lavore è fatica ma grazie alla fabbrica si puo evitare l’emigrazione. Wir sind ganz im Süden der Schweiz, da spricht man noch Italienisch. Und man ist arm, man ist dankbar für jede Fabrik, die Arbeitspätze bringt. Das Geschäft floriert, 1923 kann man ein neuen Gebäude beziehen, und Petro Realini und seine Gattin tun mit ihren Stiftungen gute Werke, die von einem Waisenhaus bis zu einem Altersheim reichen. 1976 wird die Hemdenfabrik von der Ermenegildo Zegna Gruppe übernommen und heißt jetzt Consitex.

Die Luxuslinie Zegna Couture kam auch aus Stabio, wurde aber nicht in Zegnas Hemdenfabrik genäht. Da vertraute Zegna doch auf eine ganze andere Firma. Die hatte den Namen Brülisauer, ein Name, den man sich schlecht merken kann. Herbert Brülisauer hatte die Firma 1961 gegründet, er produzierte Qualitätshemden unter dem Namen Resisto und belieferte Großkunden wie PKZ oder die Warenhauskette Manor. Doch denen wurde die Swiss Made Qualität bald zu teuer, und da verlegte sich Brülisauer, dessen Sohn Marco 1993 in die Firma gekommen war, auf das Luxussegment, Klasse statt Masse. 

Und nähten die Hemden für Zegna und Tom Ford. Aber diese Kunden ließen keine Kreativität und Originalität zu und wollten immer weniger zahlen, und so beschloss Marco Brülisauer, auf Zegna und Tom Ford zu verzichten und nur noch Hemden der eigenen Marke herzustellen. Unter dem Namen Bruli. Den Namen kann man sich leicht merken. Man hat aber für alles Fälle des Namens Resisto behalten, das braun-gestreifte da unten ist meins. Heißt Resisto, hat aber ein kleines Etikett innen drin: Made in Switzerland und prodotto da Bruli.

Marco Brülisauer arbeitet eng mit der Firma Alumo zusammen, beide Firmenchefs loben den anderen (beziehungsweise die andere) in höchsten Tönen: ‚Alumo ist bei mir das höchste Segment an Stoffen‘, sagt Marco Brülisauer. ‚Marco macht wirklich wunderschöne Hemden‘, sagt Sandra Geiger. konnte man im letzten Jahr im Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz lesen. Der Hemdenhersteller Bruli, nach eigenen Angaben der letzte unabhängige Hemdenhersteller der Schweiz, scheint gut im Geschäft zu sein, die Firma hat jetzt sogar einen Online Store. Die Hemden kosten zwischen 300 und 500 Euro, sie haben ein unverwechselbares Zeichen, an dem man ein Bruli Hemd erkennt. Und das ist ein im Ärmelschlitz des linken Ärmels eingewirkter, beinahe unsichtbarer, silberner Farben. So etwas nennt man Understatement. Diese Bruli Anzeige ist das Gegenteil von Understatement, sie ist völliger Unsinn. Das Zitat ist nicht von Leonardo da Vinci, es wurde zum erstenmal in einer Apple Reklame im Jahre 1977 verwendet.

Viele Schweizer Firmen sind untergegangen, über viele sucht man vergebens etwas zu erfahren. Die sind in der Schweiz nicht nur bei Banken verschwiegen, Hemden der Firma Diamant’s Habillement de Luxe, die es früher bei Terner in Hannover gab, gibt es nicht mehr. Terner auch nicht. Wer die erstklassigen Linea hB Swiss Hemden (von denen ich eins aus Rottach-Egern habe), produziert hat, habe ich lange nicht gewusst. Inzwischen habe ich das herausgefunden: die Linea hb Hemden wurden auch von Bruli hergestellt, das hb stand offenbar für Herbert Brülisauer. Die besten Schweizer Hemden, die ich besitze, stammen von zwei inzwischen untergegangen Firmen. Sie haben alle ein Swiss Made Label eingenäht, aber ich weiß nicht, wer die Hemden hergestellt hat. Die eine untergegangene Firma ist die von Werner Baldessarini, dessen Hemden damals den Vergleich mit den besten italienischen Hemden aushielten. Tun sie nach zwanzig Jahren immer noch. Hemden halten bei mir lange, weil ich so viele habe. 

Die andere nicht mehr existierende Firma ist Hein Gericke Classic. Da hatte sich der König der Biker Lederjacken (er wird schon im Post Lederjacken erwähnt) eine kleine Luxuskollektion zugelegt. In aufwendig gemachten Katalogen bepries Gericke seine Hemden: Aus feinsten naturbelassenen Baumwollstoffen italienischer Weber im schweizer Tessin nach alter Shirtmakertradition genäht. Das alles stimmte, sogar der Musterverlauf war angepasst und die Knopflöcher waren handgenäht. Das ist man bei Fray (die 1991 auch die Firma pegaso kauften) und Borrelli gewöhnt, aber hier? Die Hemden kosteten 169 Mark, das teuerste 298 Mark. Der Preis fiel aber bei Gericke schnell ins Bodenlose. Es muss ja einen Grund dafür geben, weshalb er in den letzten zwanzig Jahren fünf Insolvenzen hingelegt hat. Ich habe noch zwei aus der teuersten Kategorie, die irgendwann ganz preiswert geworden waren, und ich rätsele noch immer, wer im Tessin die damals gemacht hat.

Wenn wir an die Schweiz denken, dann fallen uns Banken und Uhren ein, nicht unbedingt die Mode. Aber die Modeindustrie hat für die Schweiz eine große Bedeutung. 1939 waren in der Modeindustrie eine Viertelmillion Menschen beschäftigt, und die exportierten Waren machten fünfunddreißig Prozent des gesamten Schweizer Exports aus. Ich habe diese Zahlen von der ersten ⇾Schweizer Modewoche 1942 in Zürich, zu der Hans Aeschbach dies Plakat entwarf: Baumwollstoff als Kunstwerk. Wir sind im Krieg, aber noch kommen Kunden aus dem Ausland in die Schweiz und staunen, was man zu zeigen hat. 

Die einzige Hemdenfirma, die in dem Bericht auftaucht, ist die Herrenwäschefabrik Beltex in Arzo. Die ist in den folgenden Jahren immer wieder mit Anzeigen in Schweizer Zeitungen und bewirbt ihre Produkte mit dem Satz Die Wahl des Herrn der sich zu kleiden weiß. 1948 kann die Fabrlque de lingerie pour messieurs Beltex ihrer Anzeige im L’Impartial noch hinzufügen: L’expédition suisse à l’Himalaya de l’été dernier était équipéede chemises Beltex. Elles ont admirablement fait leurs preu-ves. Les sportifs qui choisissent notre marque pour les jeux olympiques

Ich weiß nicht, was aus der Beltex geworden ist, in Arzo gab es noch die Hemdenfabrik Carristar, aber die ist seit sieben Jahren auch nicht mehr existent. Einen Teil der Belegschaft und der Ausrüstung der Carristar hat Yari Copt übernommen und seine Hemdenfirma Old Captain Co gegründet: Premetto che purtroppo, un mese fa, la Carristar di Arzo, una delle fabbriche con le quali collaboravo, è stata costretta a chiudere i battenti. Sono comunque riuscito ad integrare parte del personale e dei macchinari all’interno della fabbrica di moda Dresdensia di Pregassona, l’altro nostro laboratorio con cui collaboriamo creando un angolo di camiceria. Und da macht er jetzt bunte Hemden, das Tessin lebt wieder.

Ein Dauererfolg von Schweizer Hemden ist natürlich das Edelweiss Hemd. Die Familie Jenni in Meiringen näht die seit 1978 mit der Hand, hundertzwanzig bis hundertvierzig Hemden in der Woche. Der Preis beträgt achtzig Franken. Es gibt sie aber billiger. In den Landi Läden werden sie für 22,90 Franken verkauft. Die kommen dann aber nicht von der Märithüsli AG der Jennis, die kommen aus Kolumbien. In den letzten Jahren hat es an Schweizer Schulen immer wieder Vorfälle gegeben, bei denen Lehrer den Schülern verboten haben, diese Schweizerhemden zu tragen, weil sie fanden, dass diese Hemden rassistisch seien. Da wird sich Michelle Hunziker jetzt Gedanken machen, ob sie das Hemmli noch tragen darf. Die haben echte Sorgen in der Schweiz.

Ich besitze ein einziges Bruli Hemd, das hier. Es hat mich bei ebay zwanzig Euro gekostet, keine fünfhundert. Es ist sehr unauffällig, man fühlt und merkt ihm die Qualität und die Handarbeitet an, es hat auch handgenähte Knopflöcher, aber so richtig mitreißend ist es nicht. In Fitzgeralds Roman The Great Gatsbyschleppt Jay Gatsby seine geliebte Daisy vor seinen Kleiderschrank und zeigt ihre seine Hemden. Das ist die Stelle des Romans, wo Daisy dann They’re such beautiful shirts. It makes me sad because I’ve never seen such beautiful shirts schluchzt. Wenn ich einer Frau den Kleiderschrank mit den Hemden zeigen würde, würde sie auch so etwas schluchzen. Mein erstes Hemd, das außer mir niemand hatte, hat mir meine Oma genäht. Das war in den Adenauerjahren, als es nur weiße Hemden gab. Ich aber wollte ein blau-weiß gestreiftes Hemd haben, gab es in ganz Bremen nicht. Selbst bei Charlie Hespen nicht, der sich ganz an England orientierte. Da hat mir meine Oma das blau-weiß gestreifte Hemd genäht. Den Kragen hat sie nicht so ganz hingekriegt, aber das machte nichts.

Das Made in Italy auf dem Etikett genügt Lucianao Barbera heute nicht mehr, es gibt schon Hemden seiner Firma, auf deren Etiketten entirely manufactured in Italy steht. Luciano Barbera hat immer dafür gekämpft, dass das Made in Italy auch Made in Italybedeutet. Erst seit 2009 ist das durch ein Gesetz halbwegs geregelt, aber das bedeutet keineswegs, dass alle Teile eines Oberhemds in Italien hergestellt sein müssen. Wenn man die Hemden in Vietnam herstellen lässt, wie van Laack und Charles Tyrwhitt das tun, aber noch zwei von vier Arbeitsschritten in Italien ausgeführt werden, dann ist das Hemd immer noch Made in Italy. Luciano Barbera hatte von seinem Vater die 1949 gegründete Weberei Carlo Barbera geerbt. Aber er hatte immer weniger Kunden: So konnte man 2010 in der New York Times in einem Artikel mit dem Titel Is Italy too Italian? lesen: When describing the ills of his businesses, Mr. Barbera tends to focus on one issue: the ‚Made in Italy‘ label. For the last decade, he says, a growing number of clothing designers have been buying cheaper fabric in China, Bulgaria and elsewhere and slapping ‚Made in Italy‘ on garments, even if those garments are merely sewn here. Das Hemd hier ist meins, es hat mich bei ebay zehn Euro gekostet, keine 270 Euro, die die Firma dafür verlangt. Ich habe das Hemd wegen der schönen blauen Streifen gekauft, nicht wegen des Namens auf dem Etikett.

Im Jahre des Interviews mit der New York Times ging es Luciano Guglielmo Barbera nicht so gut, er hatte gerade die Aktienmehrheit der Weberei für über drei Millionen Euro an die Firma Kiton verkauft. Der immer elegante Luciano Barbera durfte in der Firma bleiben. Seine eigene Luciano Barbera Kollektion (die es seit 1971 gibt) blieb von dem Deal unberührt. Die Stoffe von Barbera zählen mit zum Besten, was in Italien gewebt wird, zählen aber auch zu den teuersten. Was eben zu der finanziellen Schieflage der Firma führte. Luciano Barbera hat auf seiner Internet Seite die Gründung der Firma in witziger Kürze so geschildert: In 1950, Carlo Barbera, my father, took over a fabric mill near the town of Biella. The hilly town, part of the Piedmonte region, is cold and damp but that’s unfortunately why it was–and is–the home of the finest fabric mills in Italy. All the same, upon his arrival, my Dad threw out half of the looms he found on site. Rip, thump, crash! The trash-haulers of Biella groaned under the burden of his rejects. Was he mad? Remember, he was already inheriting the best machinery in Italy. No, he just wanted better. His targets were royalty: English Lords, Dukes, titans of industry, this at a time when war-ravaged Italy had a GDP roughly the size of Madagascar’s.. 

Entirely Manufactured in Italysteht auf der Seite seiner Firma, und man kann da auch noch lesen: We view manufacturing in Italy as an art form, the result of unique and invaluable knowledge passed down for generations, resulting in the highest quality garments. So etwas Ähnliches steht auf den kleinen Heftchen, die jedem Hemd beigegeben sind. Die Qualität von Luciano Barbera war von Anfang an hoch. Die Jacketts der collezione sartoriale hand made in Italy kamen von Attolini, mehr geht nicht. Neuerdings gibt es auch Hemden von Attolini (mit dem Stoff von Carlo Riva), so etwas kostet bei Michael Jondral (dem Nachfolger von Heinrich Zapke) 450 Euro. Ich weiß nicht, ob Attolini die Hemden selbst herstellt, oder ob sie die von irgendeiner camiceria beziehen. Das weiß man bei großen Namen nie. Auch bei Luciano Barbera nicht. Die Hemden haben alle ein Etikett von Grilux, das ist die von Barbera 1975 gegründete Firma, die die Kleidung von Luciano Barbera vertreibt. Die im Internet allerdings häufig mit dem Zusatz in liquidazione auftaucht.

Vielleicht hätte Luciano Barbera lieber die Finger von der Konfektion lassen und sich auf die von seinem Vater Carlo geerbte Weberei konzentrieren sollen. Er ist in das Geschäft durch Zufall hineingeraten. Dieses Photo von Ugo Mulas sah Murray Pearlstein, der Besitzer des Luxusladens Louis in Boston, im Jahre 1962 in der italienischen Fachzeitschrift L’Uomo Vogue. Er war von dem abgebildeten Gentleman so begeistert, dass er nach Italien reiste, um Luciano Barbera zu überreden, eine eigene Modelinie zu machen, die er dann in Boston verkaufen würde. Mr. Pearlstein, I have no collection. I have only my own suits, sagte Luciano. Pearlsteins Antwort war: You have talent. You should design your own collection. Für ihn war der elegante Barbera ein Fashion Icon, das er verkaufen konnte. Und er sah, dass dieser Mann diesen Stil hatte, von dem Ralph Lauren mit seiner Purple Label Collection nur träumte.

Das war der Beginn der American connection für Barbera, der heute 65 % seiner Kollektion in die USA verkauft. Pearlstein hatte ein Händchen für Talente, Joseph Abboud stellte er mit achtzehn ein. Den Laden Louis in Boston gibt es seit dem Juli 2015 nicht mehr, die Tochter von Murray Pearlstein wollte mit sechzig Jahren aufhören und keine neuen Mietverträge mehr abschließen müssen. Das Alter ist für Luciano Barbera kein Thema, sein Vater Carlo wurde einhundertundzwei Jahre alt, er ist jetzt vierundachtig und ist mit seinen fünf Kindern noch immer im Geschäft. Das ihm nur noch zum Teil gehört, der Schweizer Philippe Camperio, der 2017 auch Borsalino gekauft hat, hat die Aktienmehrheit. Und er hat die Devise, eingeschlafenen ikonischen Marken neuen Schwung zu verleihen.

Lohnt es sich, ein Luciano Barbera Hemd zu kaufen? Für zehn Euro unbedingt. Das Hemd ist geräumig, nix mit slim fit oder solchem Unsinn. Und es hat auch Bewegungsfalten im Rücken, die müssen bei einem guten Hemd sein. Der Stoff ist erstklassig, das Hemd hat aber kein Label des Stoffherstellers. Also Namen wie Albini, Thomas Mason, Carlo Riva oder Canclini. Solche Etiketten erwartet man in dieser Preisgruppe auch nicht, man findet das eher bei preisgünstigeren Hemden, bei denen durch ein solches Etikett eine höhere Qualität suggeriert werden soll. Das Hemd hat erstklassig genähte Knopflöcher, nicht handgenäht, aber erstklassig. Da kann sich die Firma Etro mal ein Beispiel nehmen. Auf dem Ärmelschlitz ist kein Knopf, das haben englische Hemden auch nicht. Vielleicht hat Barbera das aus England mitgebracht. Denn nach seiner Ausbildung am ITIS Q. Sella in Biella hat er in Bradford und Leeds studiert. Ob Knopf oder nicht auf dem Ärmelschlitz, das wahre Qualitätsmerkmal für ein Hemd liegt daneben. Und das sind die Falten, mit denen der Ärmel in die Manschette eingefältelt wird. Drei Falten neben dem Ärmelschlitz sprechen hier von Qualität. Die hat dieses Hemd, und es hat noch mehr. Es hat auch noch Falten an der Schulter, weil der Ärmel von Hand eingesetzt worden ist.        

Aber erstaunlicherweise hat es keine Musterangleichung an die Passe. Das habe ich bei Luxushemden schon häufiger gesehen. Dies hier ist ein Hemd von Kiton, doppelt so teuer wie Barbera. Man kann die Falten im Schulterbereich sehen, man kann aber auch sehen, dass es auch hier keine echte Musteranpassung gibt. Das bleibt mir ein Rätsel. Es ist gut, dass einem die neapolitanischen Hemdenschneider noch Rätsel aufgeben. Das Barbera Hemd mit den blauen Streifen ist gut, aber es ist nicht mein bestes Hemd. Es kommt qualitativ an das Hemd von Lilian Fock nicht heran; an das Hemd von Tom Reimer, das nie im Leben eine Nähmaschine gesehen hat, auch nicht. Aber von den beiden anderen Barbera Hemden, die ich vor über zwanzig Jahren in einem Secondhand Laden fand, ist noch nie ein Knopf abgefallen. Das ist doch auch mal etwas.

Als ich die Posts Englische Oberhemden und Schweizer Oberhemden geschrieben hatte (und gleichzeitig meine Hemden in den Schränken aufgeräumt hatte), dachte ich mir, ich könnte mich mit einem neuen Hemd belohnen. Und guckte mir an, was ebay so zu bieten hat. Ich fand dieses blau-weiße Borrelli Hemd mit einem Startpreis von fünf Euro, Preisvorschläge waren erwünscht. Ich machte Vorschläge, der Verkäufer rührte sich nicht. Dann verschwand das Angebot plötzlich, ebay sieht so etwas nicht gerne, wenn Angebote aus einer Auktion unter der Hand verkauft werden. Eine Woche später tauchte das Hemd wieder auf, wieder mit einem Startpreis von fünf Euro. Ich bot 25,10 € und bekam sofort den Zuschlag, das ist für ein einmal getragenes Borrelli Hemd kein schlechter Preis.

Ich will keine Reklame für Borrelli Hemden machen, es sind sicher gute Hemden, ich habe das auch nur wegen der böau-weißen Streifen gekauft. Mein ideales Hemd sieht so. Passte mir leider nicht. In Italien gibt es viele Firmen, die Gleiches oder Besseres wie Borrelli herstellen. Ein Borrelli Hemd ist auch nichts Exklusives, bei ebay gibt es mehr als 1.200 Angebote, aber kein Hemd von Bruli (es gibt auch mehr als viertausend van Laack Hemden). Mein erstes Borrelli Hemd hat mir Hans Carl Capelle, den jeder Kelly nannte, verkauft. Es war grasgrün. Vielleicht wusste Kelly das gar nicht, er war farbenblind. Das habe ich erst Jahre später erfahren.

Kelly hatte 1970 – gleichzeitig mit Leuten wie Thomas Friese (Thomas-I-Punkt), Dolf Selbach oder Heinrich Zapke – eine Marktlücke entdeckt, er brachte italienische Mode nach Deutschland. Neben den Hemden von Borrelli gab es bei ihm auch Hemden von Truzzi, Orian und Lorenzini, die eines Tages die überteuerten Ralph Lauren Purple Label Hemden herstellten. Ich lasse das jetzt mal weg, weil ich mir überlegt habe, irgendwann einen Post über italienische Hemden zu schreiben. Das grasgrüne Borrelli Hemd habe ich nach vierzig Jahren immer noch, es passt auch noch. Die Knopflöcher (natürlich handgenäht, darauf ist man bei Borrelli stolz) sind mit weißer Nähseide genäht, das gibt dem Hemd einen gewissen Pep.

Der Ruf von Borrelli ist neuerdings ein klein wenig beschädigt, Borrelli ist auch nicht mehr Borrelli. Der Herr auf dem Photo mit dem zu kurzen Schlips ist Fabio Borrelli, der Sohn des Firmengründers Luigi Borrelli. Er ist gerade vor Gericht freigesprochen worden. Sieben Jahre zuvor hatte die Guardia di Finanza seine Fabriken besetzt und ihn festgenommen. Er kam erst einmal nicht ins Gefängnis sondern bekam Hausarrest. Damals gab es noch keine Corona, sonst hätte er das als Home Office deklarieren können. Es war eine Blitzaktion der Guardia di Finanza gewesen, die nicht nur Borrelli betraf, es ging um Wirtschaftskriminalität, falsche Abrechnungen und das Erschleichen von fünfzig Millionen EU Förderungsgeldern. Borrelli wurde zwar irgendwie freigesprochen, aber er musste für seine Firmen der Borrelli Gruppe Konkurs anmelden. Wer heute die Firma Borrelli besitzt und die Hemden herstellt, ist ein klein wenig unklar. Auf der Borrelli Homepage wird die Wirtschaftskriminalität nicht erwähnt, aber man kann lesen, dass man stolz sei, Viktor Emanuel von Savoyen zu beliefern. Bei dem Ruf dieses Herrn ist das eine sehr zweifelhafte Reklame.

Michael Rieckhof, der das Geschäft Kelly’s mittlerweile übernommen hatte, legte seine Borrelli Hemden zur Ausverkaufsware, neue Hemden bekam er erstmal nicht mehr. Zwei Häuser neben Kelly’s hatte Hans Carl Capelle noch einen zweiten Laden gehabt, als er den auflöste, zeigte er mir etwas, das ich noch nie gesehen hatte: unter dem Laden in der Dänischen Straße 12-16 war eine Disco. Das war einmal das berühmte Tanzcafé Florida, in dem Hazy Osterwald und Marika Rökk auftraten. Auf dem Parkett der unterirdischen Disco tanzt heute niemand mehr, der Laden darüber ist jetzt ein van Laack Store, der nichts mehr vom dem nostalgischen Charme des Florida oder dem Laden von Kelly hat.

Die Sache mit dem Borrelli Hemd war O.K., ich hatte es nicht wegen des Namens gekauft, sondern wegen diesem schönen blau-weißen Streifen, ich liebe solche Hemden. Aber ich suchte nun bei ebay nach etwas anderem, nach einer Marke, die ich noch nicht kannte. Und da stieß ich auf ein Hemd von Philippe Perzi Vienna, das acht Euro kostete. Kaufte ich, nachdem ich mich im Internet über die Marke informiert hatte. Heute geht das nicht mehr, denn alles, was noch vor Wochen unter https://philippeperzi.com/ im Internet stand, ist plötzlich verschwunden. Der Laden in der Spiegelgasse 25, in dem angeblich Maßhemden geschneidert wurden, ist dauerhaft geschlossen. Die Seite, auf der man Philippe Perzi Hemden, die zweihundert Dollar kosteten, bestellen konnte, ist auch weg.

Das alles wusste ich nicht, als mein Philippe Perzi Vienna Hemd ankam, kostenfreie Lieferung. Ich bestellte mir bei dem Händler noch ein zweites mit einem Haikragen, auch für acht Euro, ungetragen. Man kann gegen die Hemden nichts Böses sagen, sie haben unten in der Seitennaht auch ein kleines Dreieck wie die Borelli Hemden. Und die Hemden haben ein zusätzliches Etikett, das darauf hinweist, dass der Stoff von Thomas Mason ist. Das ist ein berühmter Name, denn diese englische Firma gibt es seit 1796. Genauer gesagt, trägt sie diesen Namen offiziell wohl erst seit den 1870er Jahren. 

Thomas Mason hatte 1796 als cotton spinner in Gargrave begonnen, aber im richtigen Baumwollgeschäft war er erst seit den 1820er Jahren mit seiner Primet Mill in Colne, wo es noch ein Dutzend anderer cotton mills gab. 1845 baut er eine sechsstöckige Fabrik in Ashton-under-Lyne. Der Satz Cotton is King, den James Hammond in seiner berühmten Rede gebrauchte, gilt nicht nur für die amerikanischen Südstaaten, er gilt auch für England. In Fontanes Roman Der Stechlin sagt der Pastor Lorenzen zu dem alten Dubslav von Stechlin über die Engländer: Sie sind drüben schrecklich runtergekommen, weil der Kult vor dem Goldenen Kalbe beständig wächst; lauter Jobber, und die vornehmen Leute obenan. Und dabei so heuchlerisch; sie sagen Christus und meinen Kattun. Es ist die viktorianische Doppelmoral, die hier angeklagt wird. Hugh Mason, der Sohn Thomas Masons, ist frei davon. Er übernimmt nach dem Tod seines Vaters die Fabriken, er wird Politiker (Liberal Party) und Sozialreformer. Er schafft für seine Arbeiter Arbeitsbedingungen, wie das schon Sir Titus Salt in Bradford gemacht hatte. Damit ist er einer der wenigen im viktorianischen England. In Ashton-under-Lyne, wo der paternalistische Fabrikherr auch Bürgermeister war, hat ihm die Gemeinde eine Bronzestatue spendiert.

So eindrucksvoll das Thomas Mason Etikett auf den Hemden von Philippe Perzi daherkommt, die Firma gibt es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Als Limited Private Company existiert die Firma nach dem Tod des letzten Mitglieds der Familie noch von 1927 bis 1956. Danach wird die Firma verkauft, zuletzt hatte sie dem Industrieriesen Courtauld gehört, der die Fabrik 1991 schloss. Die italienische Albini Group, der größte italienische Weber, kaufte den Namen Thomas Mason und das Renommee, das dieser Name hatte. Und auf den kleinen Etiketten steht jetzt unter dem Namen Thomas Mason woven in Italy.

In der Werbung der italienischen Firma Albini liest sich die Firmengeschichte von Thomas Mason etwas anders als hier beschrieben: At the height of the Industrial Revolution, Sir Thomas Mason founded in Lancashire one of the first factories to manufacture cotton shirt fabric. These fabrics were used by London’s West End tailors serving the aristocracy and the upper class, before being exported throughout the British Empire and all over the world. Nichts davon stimmt, er war nicht der erste, er war kein Sir Thomas etc etc. Man fälscht sich die Geschichte, das ist das erste, wenn man einen kleinen Mythos aufbauen will. 

Und den hat sich unser Philippe Perzi auch schreiben lassen: The Philippe Perzi philosophy is an unequivocal commitment to quality and individuality. Philippe Perzi Vienna exquisitely tailored shirts are made from only the highest quality Italian fabrics, with signature marks of expert design and detail giving our shirts that beautifully bespoke finish. The finest Egyptian cotton yarns in the highest counts are selected, including yarns with real West Indian Sea Island cotton – the rarest and most precious variety in the world. Each fabric is selected because it represents the perfect combination of vibrancy and function; individual flair and traditional style. All fabrics are eco-friendly and satisfy the Oeko-Tex Standard 100. Rather than pursuing mass production, each Philippe Perzi Vienna shirt requires at least 25 separate pieces and 50 individual steps, with attention to detail that can only be achieved with hand cutting and hand pressing. Key to our commitment to individuality, Philippe Perzi Vienna shirts are made in a limited edition of 17 or less, ensuring your shirt is one of a kind and truly only yours. Philippe Perzi Vienna continually strives to create new and beautiful collections throughout the seasons, always offering something fresh and exciting. Philippe Perzi Vienna offers a superior level of quality rarely accessible in today’s market. The challenge is for you to choose your favourites from our extensive and unique range. Philippe Perzi Vienna – What makes us different, makes you different. It’s all in the detail. Das ist nichts als Werbelyrik, ich glaube, die ganze Sache mit den Philippe Perzi Hemden ist ein riesiger Schwindel. Alle Internetadressen führen ins Nichts oder auf Werbeseiten. 

In der wunderbaren Geschichte Hemden nach Mass des unterschätzten Reiseschriftstellers Thomas Münster heißt es über den Hemdenkauf (wir sind irgendwo am Mittelmeer): In diesen quirlenden Küstenstädten des Nordwestens kann man niemals genau sagen, wo der afrikanische Wunderglaube aufhört und wo das europäische Ganoventum anfängt. Da stand zum Beispiel ein Mann im Bazar, der sich — keß amerikanisiert — Billy Mack nannte und Hemden verkaufte; Ausschuß von irgendeinem französischen Warenhaus natürlich, ein Hemd genau wie das andere! Aber Billy Mack legte jedem Käufer ein ausgeleiertes Meßband um den Hals und rief dann eine beliebige Zahl. Worauf sein Söhnchen – wie der Vater teils Neger, teils Araber und teils Weißer — das nächste Hemd vom Stapel griff und es dem glücklichen Käufer zuwarf. Und am Ende der Geschichte sagt der Käufer: Dieses Hemd hier paßt mir ganz genau — es ist Maßarbeit, denn ich habe es gestern bei Billy Mack gekauft!

So hat das Geschäft von Philippe Perzi in Wien, einem modernen Billy Mack, angeblich ausgesehen. Wir können es nicht nachprüfen. Wenn man bei ebay Oberhemden Herren eingibt, bekommt man 1.384.263 Ergebnisse. Es sind schlimme Dinge dabei, 65% Polyester (Pierre Balmain), und dann all die slim fit, custom tailored und contemporary fit Hemden. Die bestenfalls dem ehemaligen Außenminister passen, der immer zu kleine Klamotten trug. Im Allgemeinen sind ebay Händler nicht in der Lage ein Hemd korrekt zu beschreiben. Über neunzig Prozent können nicht die relevanten Maße eines Hemdes angeben. Eine Kragengröße sagt gar nichts, vor allem bei italienischen Hemden nicht. Der schlimmste ist ein Händler namens Momox, er bietet keinerlei Größenangaben für das Hemd an, offeriert aber einen kostenlosen Versand und einen kostenlosen Rückversand. Ich nehme an, dass Momox (die unter dem Namen Medimops den Markt antiquarischer Bücher unter Kontrolle haben) die Retourenkönige des Internets sind. Einen Umsatz von 150 Millionen Euro haben sie auch im Jahr, Borrelli schafft mal gerade 25 Millionen.


Sie wissen, was ein Blaustrumpf ist. Das Lehnwort kommt aus dem Englischen; kommt aus dem 18. Jahrhundert, als die Lady Elizabeth Montagu einen Salon hatte, der irgendwann die Blue Stockings Society heißen wird. Das Wort bluestocking bezeichnete zuerst lediglich eine gebildete, gelehrte Person (männlich und weiblich), seit 1788 (das sagt uns das Oxford English Dictionary) wird das Wort nur noch spöttisch und pejorativ gebraucht. Also zum Beispiel, wenn William Hazlitt sagt: The bluestocking is the most odious character in society… she sinks wherever she is placed, like the yolk of an egg, to the bottom, and carries the filth with her. Aber Hazlitt, so klug er manchmal sein kann, hat immer Probleme mit den Frauen, den lassen wir jetzt mal weg. Wir müssen allerdings bedenken, dass der erste Blaustrumpf gar nicht die berühmte Lady Montagu ist, die Dr Johnson the Queen of the Blues genannt hat, der erste Blaustrumpf ist ein Mann.

Er heißt Benjamin Stillingfleet, er ist ein Wissenschaftler und Schriftsteller. Er war einmal Hauslehrer eines Landadligen, mit dem er verwandt war, und hat ihn auf der ⇾Grand Tourbegleitet. Die Familie seines Schützlings wird ihm für sieben Jahre eine jährliche Rente von einhundert Pfund bezahlen, das ist im 18. Jahrhundert viel Geld. Aber er wird zeitlebens ein armer Mann bleiben. Und wenn er zu den Salons der gebildeten Damen eingeladen wird, dann besitzt er keine schwarzen Seidenstrümpfe, die man in der feinen Gesellschaft trägt (wir erinnern uns daran, dass ⇾Wordsworth auch keine besaß), er trägt blaue Stoffstrümpfe. Ein Zeitgenosse beschreibt ihn so: he wore a full dress suit of cloth of the same uniform colour, with worsted stockings, usually blue, and a small brass hilted sword peeping through the skirts of his coat. His wig was decorated with several rows of formal curls

Wenn Stillingfleet einer Einladung bei Elizabeth Vesey nicht folgen mag, weil er keine schwarzen Seidenstrümpfe besitzt, weil er nicht in the habit of displaying a proper equipment for an evening assembly sei, sagt ihm die Mitbegründerin der Blue Stockings SocietyPho, pho, don’t mind dress! Come in your blue stockings! Die Geschichte finden wir bei Frances Burney, einer gebildeten Frau (über die Hazlitt häßliche Dinge sagt, er kann nicht anders), die hier schon mit ⇾Fanny Burney einen Post hat. Fanny Burney hat über Elizabeth Montagu (Bild) gesagt: Brilliant in diamonds, solid in judgement, critical in talk. Reichtum und Geist kommen in diesen Frauenclubs (die auch Männer zulassen, solange keine Karten gespielt werden) zusammen, und das ist etwas, das Männern Angst macht. Auf jeden Fall William Hazlitt. 

Man braucht nicht unbedingt reich zu sein, um einen Salon zu unterhalten, das hat uns ⇾Rahel Levin Varnhagen (die hier auch schon einen Post hat) gezeigt. Bei Rahel war der Salon schon ein wenig Bohème, keinesfalls so elegant wie bei ⇾Madame Récamier, aber dieses klein bisschen Bohème wollten die englischen bluestockings ja auch, sonst hätte sie Stillingfleet nicht eingeladen. Elegante Mode ist ihnen nicht so wichtig, geistvolle Konversation schon. We have lived with the wisest, the best, and the most celebrated men of our Times, and with some of the best, most accomplished, most learned Women of any times. These things I consider not merely as pleasures transient, but as permanent blessings, hatte Elizabeth Montagu an ihre Freundin Elizabeth Vesey geschrieben. Auf diesem Bild von Richard Samuel können Sie alle bluestockings als Musen im Tempel des Apoll sehen. Das Bild hängt in der National Portrait Gallery, und wenn Sie den Link anklicken, kommen Sie auf eine Seite, mit der Sie alle dargestellten Personen identifizieren können.


Über den schottischen Philosophen und Historiker David Hume hat Elizabeth Montagu gesagt: I detest Mr. Hume’s philosophy as destructive of every principle interesting to mankind, tho‘ in other respects one of the most authentic, entertaining and instructive Historys I have ever read: but I love Mr. Hume personally as a worthy agreeable man in private life. Beinahe alle haben ihn gemocht, das hat er in seinem kurzen Lebensabriss, den er kurz vor seinem Tod verfasste, geschrieben. David Hume, Sohn eines verarmter schottischen Adligen, wird mit seinen Schriften viel Geld verdienen, manchmal tausend Pfund im Jahr. Er besitzt natürlich Seidenstrümpfe und er hat auch gegen Luxus und Champagner nichts einzuwenden.

Ein deutscher Philosoph wird über ihn sagen: Ich gestehe frei: die Erinnerungen des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. Das sagt niemand anderer als Immanuel Kant. Und Schopenhauer wird schreiben: Aus jeder Seite von David Hume ist mehr zu lernen, als aus Hegels, Herbarts und Schleiermachers sämtlichen philosophischen Werken zusammengenommen. Schopenhauer, der Englisch konnte und die Times las, plante einmal, Hume ins Deutsche zu übersetzen, im Vorwort dieses nicht verwirklichten Plans können wir lesen: Kaum wage ich es, dem erleuchteten philosophischen Publikum unserer Tage diese neue Verteutschung populär-philosophischer Schriften Hume’s vorzulegen, da selbiges auf einem Gipfel steht, von welchem es nicht nur auf die weiland berühmten französischen Philosophen, wie Helvetius, d’Alembert, Diderot, Voltaire, Rousseau mit merklicher Geringschätzung herabsieht als auf beschränkte und verstockte raissoneurs, sondern auch die Engländer des vorigen Jahrhunderts nicht viel höher anschlägt

Es gab hier vor zehn Jahren einen Post David Hume, das war der dreihundertste Geburtstag des Philosophen, ein zweiter Post zehn Jahre später kann nicht schaden. Vor allem, weil er ein Autor ist, den man nach hunderten von Jahren immer noch lesen kann. Auf diesem Portrait Humes von Allan Ramsay aus dem Jahre 1766 sieht Hume aus wie ein König, und ein König der Philosophie ist er ja auch. Es kann sein, dass er eine Hofuniform trägt, denn zu dieser Zeit ist er der Chargé d’affaires der englischen Botschaft in Paris. Der englische ⇾König findet die Kleidung viel zu elegant, aber Ramsay sagt zu ihm: I wished posterity should see that one philosopher during your Majesty’s reign had a good coat upon his back. Ramsay ist und bleibt ein Schotte, zwanzig Jahre früher hat er ⇾Bonnie Prince Charlie gemalt. Wenn es nach Ramsay ginge, säße jetzt ein Stuart auf dem Thron. Ramsays Vater ist Dichter und besitzt eine Buchhandlung und eine Leihbücherei, hier hat der junge Philosoph Hume seine Bücher gekauft, hier hat er den jungen Maler kennengelernt. Seit über dreißig Jahre sind sie befreundet, ich finde, man kann das dem Bild ansehen. It is a wonderful result of the progress of human culture, that at this day there come to us from Scotland rules of taste in all the arts, from epic poetry to gardening, hat Voltaire gesagt. Was Hume für die schottische Philosophie bedeutet, das bedeutet Ramsay für die schottische Kunst.

Vier Jahre nachdem er Humes Portrait gemalt hat, gibt Ramsay die Malerei auf, widmet sich der Literatur, lernt Griechisch und zieht nach Italien. Hinterlässt fünfzig angefangene Bilder des Königs, die sein Schüler und Assistent Philip Reinagle (der seinem Sohn den Vornamen Ramsay gab) fertigstellt. Das Portrait des Philosophen hing bis zu seinem Tod neben einem Portrait von Rousseau im Haus von Hume. Es ist über Jahrhunderte im Familienbesitz geblieben, bis die Großnichte von Hume es der Scottish National Gallery schenkte.

Ich lese natürlich Anna Karenina zu Ende, das habe ich in dem Post Oberrock schon gesagt. Aber ich habe die Lektüre erst einmal unterbrochen, weil ich mal eben Eine Liebe von Swann neu lesen musste. Nicht in dieser von Jean-Yves Tadié besorgten Ausgabe (Collection Folio classique (n° 6439) Gallimard), sondern in einer mir bis dato unbekannten Übersetzung. Ich suchte für den Anfang des Posts ein Bild von Un amour de Swann und fand dieses, eine stilisierte Blume, umgeben von einem Wirrwarr von Pfeilen. Ich betrachtete das Bild einen Augenblick lang und wusste, was es sein sollte. Die stilisierte Blume ist eine Cattleya, eine Orchideenart. Und diese nach dem britischen Orchideengärtner William Cattley benannte Pflanze hat eine besondere Bedeutung für den Roman, die es rechtfertigt, als Bild auf den Buchumschlag zu kommen.

Odette de Crécy, in die sich Charles Swann verliebt, trägt eine solche Blume im Ausschnitt ihres Kleides. Sie liebt an Blumen nur diese Cattleya (bei Proust catleya) und Chrysanthemen, ihre Wohnung ist voll davon. Die schöne Odette ist, das müssen wir vorausschicken, eine Halbweltdame. Also eine Frau, die uns auch in den Posts les grandes horizontales und Demimonde hätte begegnen können. Oder in dem Post über Marie Duplessis, das Vorbild für die Kameliendame Violetta Valéry in La Traviata

Von der weiß man ja, wieviel Geld sie für Blumen ausgegeben hat, weil man irgendwann nach ihrem Tod die Rechnungen der Floristen gefunden hat. Wenn man sich die Portraits der Damen der Belle Époque von Giovanni Boldini anschaut, dann wird man sehr häufig Blumen im Ausschnitt des Kleides finden. Wie hier bei der Prinzessin Radziwill, einer ersten Jugendliebe von Proust.

Diese Bilder von Prinzessinnen, Comtessen und Courtisanen, die heute wie eine Galerie von Pin Up Girls der Hautevolee des Fin de Siècle wirken, haben natürlich etwas Erotisches an sich. Die muet language des robes, von der Proust spricht, ist nicht wirklich stumm. Die Prinzessin Bibesco, die ihre Begegnung mit Marcel Proustniederschreiben wird (deutsch als Paperback im Insel Verlag), wird hier vom Maler mehr aus- als angezogen. Aber wenn sie auch beinahe nackt ist, die Blume im Ausschnitt des angedeuteten Kleides darf nicht fehlen.

Diese Dame hier auf dem Gemälde von Raimundo de Madrazo y Garreta trägt auch eine Orchidee im Ausschnitt. Sie heißt Laure Hayman und ist die Geliebte von Prousts Großonkel Louis (und vielleicht die auch seines Vaters). Als Louis Weil sie ihm 1888 vorstellt, ist Proust siebzehn Jahre alt, er ist von der zwanzig Jahre älteren Courtisane hingerissen. Drei Jahre später schenkt sie ihrem jugendlichen Verehrer die Erzählung Gladys Harveyvon Paul Bourget (der auch einer ihrer Liebhaber war), eingebunden in die Seide eines ihrer Unterröcke. Und mit der Widmung Ne rencontrez jamais une Gladys Harvey versehen. Die Gladys Harvey in Bourgets Roman ist eine Courtisane, mit diesem Werk ist Laure Hayman in die Literatur gewandert. 

Dort wird sie bleiben, denn Proust macht sie zu Odette de Crécy. Der junge Proust ruiniert sich beinahe finanziell, weil er ihr immer Chrysanthemen schickt, ces fleurs fières et tristes comme vous. Wenn Laure Hayman (hier auf dem Gemälde von Federico de Madrazo y Ochoa nackt, aber mit Blumen im Haar) entdeckt, dass Proust sie in eine Romanfigur verwandelt hat, wird sie ihm einen wütenden Brief schreiben, in dem sie ihn anklagt, ein Monster zu sein. Eine Frau, die ich vor 30 Jahren geliebt habe, schreibt mir einen wütenden Brief um mir zu sagen, Odette sei sie, ich sei ein Scheusal. Solche Briefe (und die Antworten darauf) nehmen einem die Lust zur Arbeit, von der Freude an ihr ganz zu schweigen: auf sie habe ich seit langem verzichtet, schreibt Proust im Mai 1922 an seinen Verleger.

Die kreolische Schönheit, die Francis Hayman, den Lehrer von Thomas Gainsborough zu ihren Vorfahren zählt, hat zehn Jahre gebraucht, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass sie Odette sei. Das ist nun ein wenig lächerlich. Laure Hayman war auch nicht die einzige, die ein Vorbild für Odette ist. Die Dame auf diesem Bild mit den Chrysanthemen im Ausschnitt ist nicht Gladys Harvey, das ist Gladys Marie Deacon, über die Proust schrieb: Ich sah noch nie ein Mädchen mit einer solchen Schönheit, Intelligenz, sowie Güte und Charme. Wenn die den Duke of Marlborough heiratet, wird Proust ihr Gast bei der standesamtlichen Trauung sein. Wahrscheinlich trägt er dann wieder eine Orchidee im Knopfloch wie auf dem Portrait von Jacques-Emile Blanche.

Als Vorbild für Odette wird auch immer noch Méry Laurent genannt, Modell und Geliebte von Manet und Vorbild für Zolas Roman Nana. Und da ich bei Manet und Nana bin, muss ich diese junge Dame unbedingt abbilden. Diese Nana, blond wie Laure Hayman, heißt Henriette Hauser, sie ist auch eine Courtisane, die Geliebte des Prinzen Wilhelm von Oranien-Nassau. Sie ist gerade dabei sich für den Abend anzukleiden, der Herr im Frack, den Manet ein Jahr später auf das Bild gemalt hat, wartet darauf, dass sie ihr Abendkleid anzieht. Wahrscheinlich wird sie sich auch eine Orchidee in den Ausschnitt stecken, denn Orchideen sind jetzt chic.

Wo kommen die Orchideen plötzlich her? Ursula Voß sagt in ihrem Buch Kleider wie Kunstwerke: Marcel Proust und die ModeGauguin hatte mit seinen Gemälden von tierhaft sinnlichen Südseeinsulanerinnen den Blumenschmuck im Haar nach Paris gebracht. Die erste Frau mit Blumen im Haar, die Proust sieht, ist die Gräfin GreffulheSie trug eine Frisur von polynesischer Anmut, und malvenfarbene Orchideen fielen ihr bis zum Nacken … noch nie habe ich eine so schöne Frau gesehen. Die Gräfin Greffulhe, die für Proust das Vorbild der Herzogin von Guermantes wird, in die der Erzähler Marcel unsterblich verliebt ist, gehört natürlich nicht zur Demimonde. 

Auf diesem Photo von Nadar trägt sie keine Blumen im Haar und keine Orchideen im Ausschnitt, die Blumen sind alle auf dem Abendkleid von Charles Frederick Worth, das heute den Namen Robe aux Lys trägt und in einem Pariser Museum zu sehen ist. Sie trägt aber auch manchmal Orchideen, so schreibt Proust an Robert de Montesquiouüber einen Ball im Jahre 1894: 
Die Gräfin Greffulhe, kostbar gekleidet: ein Kleid aus fliederrosa Seide, übersät mit Orchideen, bedeckt von Seidenmusselin im gleichen Farbton, der Hut mit Or­chideen geschmückt und ganz von lila Gaze umhüllt. Kurz vor seinem Tod erbittet sich Proust von der Comtesse einen signierten Abzug des Photos von Nadar, damit er ihre vollendete Schönheit in der Einsamkeit seine Zimmers betrachten könne. Sie lehnt ab. Zwanzig Jahre später wird sie in einem Interview sagen, dass sie Proust kaum gekannt habe und keinerlei Briefe von ihm besitze.

Lassen Sie mich von den Blumen im Haar der schönsten Frau von Paris, die ihren größten Verehrer schnöde verleugnet, wieder zu der Demimonde zurückkehre. Und zu den Blumen im Ausschnitt der Abendkleider. Wie hier bei Marthe Régnier, einer Schauspielerin, die die Mätresse des Barons Henri de Rothschild ist. Ursula Voß weiß in ihrem Buch einiges über die Orchideen bei Proust zu sagen: Weibliches Begehren, die Triebhaftigkeit der Femme fatale, symbolisiert am sprechendsten eine florale Züchtung, ein letztes verfeinertes Produkt der wildwachsenen exotischen Orchidee von unverhohlenem Aufforderungscharakter. Dem Dichter wird sie zum Code für die weibliche Erotik, gleichsam ein Haute-Couture-Gewächs in komplizierter Form und Schnittraffinesse und fein abgestuftem Violett von Hell bis Tintendunkel die Cattleya trianae, ein Sexualorgan in den Augen der Proustologen.

Und damit sind wir beim Thema: Sex. Swann und Odette sitzen in einer Kutsche, die durch vor einem Hindernis scheuende Pferde ein wenig ins Wackeln gekommen ist. Und jetzt sagt Swann zu Odette: ‚Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich die Blumen an Ihrem Ausschnitt wieder zurechtrücke, die durch den Stoß verrutscht sind? Ich habe Angst, daß Sie sie verlieren könnten, ich werde sie etwas tiefer hineinstecken.‘ Sie, die nicht gewohnt war, dass die Männer so viele Umstände mit ihr machten, antwortete lächelnd: ‚Aber nein, das macht mir gar nichts aus.‘ Sie ahnen, was nun passiert.

In ihrem Proust-ABC sagt Ulrike Sprenger: unter dem Vorwand, das Gesteck in ihrem Ausschnitt wieder zurechtzurücken, liebkost Swann ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste. Für beide ist diese Form der indirekten Annäherung etwas Besonderes: Für Swann, weil er auf diese Weise bis in die erotische Berührung hinein die begehrte Frau als Kunstwerk empfinden kann, die prächtigen, aber geruchlosen und künstlichen Blüten verleihen ihr den Charakter eines kostbaren Blumenarrangements, und für Odette, weil sie es nicht gewohnt ist, daß Männer viele Umstände machen. So bleibt die erste Berührung deswegen reizvoll, weil sie den Umweg »durch die Blume« nimmt, noch keinen endgültigen Besitz bedeutet – weil das Bild der Blume den individuellen Phantasien und Sehnsüchte der Liebenden eine Projektionsfläche bietet. Als die Liebe zwischen Swann und Odette erkaltet und Sex längst zur körperlichen Routine geworden ist, bewahren zwei Dinge die Erinnerung an eine einzigartige Leidenschaft: Das kleine Thema Vinteuils und der Ausdruck »Cattleya machen«, den Odette und Swann seit der ersten Berührung für die körperliche Liebe verwenden. 

Wir brauchen für die Szene in der Kutsche keine Bilder aus einem Film, wir bleiben im Roman. Und wir wissen jetzt, dass die französische Sprache für das faire l’amour jetzt noch einen anderen Begriff hinzugewonnen hat: la métaphore « faire catleya » devenue un simple vocable qu’ils employaient sans y penser quand ils voulaient signifier l’acte de la possession physique — où d’ailleurs l’on ne possède rien — survécut dans leur langage, où elle le commémorait, à cet usage oublié. Et peut-être cette manière particulière de dire « faire l’amour » ne signifiait-elle pas exactement la même chose que ses synonymes. On a beau être blasé sur les femmes, considérer la possession des plus différentes comme toujours la même et connue d’avance, elle devient au contraire un plaisir nouveau s’il s’agit de femmes assez difficiles — ou crues telles par nous — pour que nous soyons obligés de la faire naître de quelque épisode imprévu de nos relations avec elles, comme avait été la première fois pour Swann l’arrangement des catleyas.

Heute vor fünfzig Jahren ist sie in ihrer Suite im Hotel Ritz gestorben. Diese Suite hatte sie nie aufgegeben, auch in den langen Jahren nicht, als sie den Boden Frankreichs nicht mehr betreten durfte. Als sie im Alter von 87 Jahren starb, kannte jeder ihren Namen. Der auch der Name eines Parfüms war, von dem Marilyn Monroe gesagt hatte: What do I wear in bed? Why, Chanel No. 5, of course.

Das Kind Gabrielle Chanel, unehelich geborene Tochter des Hausierers Albert Chanel, konnte von dem Ritz nur träumen. Das war das, wo sie hin wollte, egal, um welchen Preis. Es gab damals nicht nur ein Paris. Es gab das Paris von Emile Zola, und es gab das Paris von Marcel Proust. Gabrielle wollte in die Welt von Proust, die Welt von Zola kannte sie zur Genüge. In Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kommt sie aber nicht vor. Das Kleid von Fortuny, das Albertine an diesem Abend angelegt hatte, kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor. Morgenländische Ornamente überzogen es überall, die unzählige Male auf dem schillernden Gewebe von tiefem Blau wiederkehrten, das unter meinem vorwärtstastenden Blick sich in schmiegsames Gold verwandelte durch eine ähnliche Metamorphose, wie sie vor der vorwärtsgleitenden Gondel flammendes Metall aus der Azurtönung des Canale Grande macht, heißt es bei Proust. Auch die Herzogin von Guermantes trägt Fortuny. Wenn man sehr viel Glück hat, kann man ein solches Kleid (wie hier auf dem Bild) heute auf einer Auktion für zehntausend Euro ersteigern. Ein Chanel Kostüm ist da sehr viel preiswerter.

Der Rest der Damen aus der Aristokratie bei Marcel Proust wird wahrscheinlich Paul Poiret tragen. Gegen den kommt die Chanel, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Geld ihres Liebhabers ihren ersten Salon in Paris aufgemacht hat, noch nicht an. Ihre Kundschaft ist auch eher die Demimonde und nicht die wirklich feine Welt. Die kauft die Haute Couture bei Madame Grès oder bei Captain Molyneux, bei Elsa Schiaparelli oder bei Madeleine Vionnet. Die alle modehistorisch bedeutender sind als Chanel, die aber nicht das Selbstvermarktungsgenie von Coco Chanel haben.

Denn die Geschichte der Coco Chanel, die gesagt haben soll Ich mache keine Mode, ich bin die Mode, ist die Geschichte eines selbst gestrickten Mythos. Daran hat sie ihr Leben lang gearbeitet. Sie hat ihre Biographie bis zur Unkenntlichkeit gefälscht, bis sie ein Markenzeichen wurde. Sie war nicht die erste, die die Kleider vom Korsett befreite. Das hatte schon Paul Poiret getan. Sie hat Chanel No. 5 nicht erfunden, das hat der Parfümeur Ernest Beaux erfunden. Das Geld für das ganze Unternehmen kommt von Pierre Wertheimer, die Chanel hat nur einen zehnprozentigen Anteil. Noch heute ist das Modehaus Chanel (Parfüm inklusive) im Alleinbesitz der Familie Wertheimer, einer der reichsten Familien Frankreichs.

Aber das kleine Schwarze hat sie erfunden. Und das Chanel Kostüm. Das aber erst als sie siebzig war und gerade wieder nach Paris zurückgekommen war. Wurde zuerst von der Presse verlacht, trat dann aber seinen Siegeszug im Amerika von Eisenhower und im Deutschland von Adenauer an, der Inbegriff der Eleganz für das Bürgertum (ja, meine Mutter hatte auch mehrere). In Paris hatte man ein Jahrzehnt nach dem Kriegsende gnädig die Vergangenheit der Frau mit der Suite im Ritz vergessen. Die sich dort, als alle deutschen Offiziere der Besatzung ihren Frauen Chanel No. 5 mit nach Deutschland brachten, einen der Nazi-Besatzer geangelt hatte, den Baron von Dincklage. Sie hatte sich ihre Liebhaber immer nach Geld und Einfluss ausgesucht.

Der Pariser Industriellensohn Etienne Balsan hatte sie in die Gesellschaft eingeführt, der englische Bergwerkbesitzer Boy Capel hatte der Modistin den ersten Laden finanziert. Später kam noch ein englischer Herzog dazu, jetzt war es ein Repräsentant von Hitlers Deutschland. Für dessen Vorgesetzten, den SS General Walter Schellenberg, sie später noch die Beerdigung bezahlt hat. Vielleicht wäre das Goethewort Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist an dieser Stelle ganz angebracht. Während der occupation allemande hat sie versucht, die Firma Chanel zu arisieren und sich in den Besitz der siebzig Prozent Firmenanteils der nach Amerika geflohenen Wertheimers zu setzen. An solche Dinge sollte man auch denken, bevor man unkritisch Coco Chanel zu einem Mythos macht.

In der Welt des schönen Scheins, wo das Design das Sein überstrahlt, kommen viele Designer von ganz unten und wollen nach ganz oben. Weil die glitzernde Eleganz da oben ihnen als begehrenswertes Ideal im Gegensatz zu ihrer ärmlichen Kindheit erscheint. Nicht unserem Karl Lagerfeld, der später das Design von Coco Chanel prägte. Der kam aus der Glücksklee Büchsenmilch Dynastie. Aber Gabrielle Chanel und Ralph Lifshitz (der heute Ralph Lauren heißt) wären solche Fälle. Jeremy Hackett ist sich seiner Herkunft aus der working classimmerhin noch bewusst. Im letzten Jahr hat es gleich zwei Filme gegeben, die an dem Mythos Chanel arbeiteten: ✺Coco avant Chanel (mit der schnuckeligen kleinen Audrey Tatou) und ✺Coco Chanel & Igor Stravinsky. Die Nazi-Vergangenheit der Heldin sparen beide Filme aus.

Die Dokumentation ✺Coco Chanel, die Revolution der Eleganz ist noch drei Wochen in der arte Mediathek zu sehen. Den Film ✺Chanel Solitaire mit der wunderbaren Marie-France Pisier (Bild) habe ich auch, aber leider in einer schlechten Qualität. Der Post zu Coco Chanel stand hier schon vor zehn Jahren, er ist ein wenig überarbeitet und durch Links zu den Chanel Filmen ergänzt worden. Denn Filme über ihr Leben gibt es genug, ich sollte noch den zweiteiligen Film ✺ Coco Chanel aus dem Jahre 2008 erwähnen, in dem die  slowakischen Schauspielerin Barbora Bobuľová die junge Coco Chanel spielt und Shirley die Coco Chanel nach dem Zweiten Weltkrieg verkörpert. Über Madame Grès und Madeleine Vionnet gibt es keine Spielfilme.