Die Royal Navy bezog die Stiefel für ihre Matrosen aus Northampton. Holzgenagelt, um das Deck zu schonen. Die Army bekam sie stahlgenagelt. Alle Landarbeiter trugen genagelte Stiefel, der ziemlich steife Schuhboden ist bei Arbeitsschuhen ein großer Vorteil. Das ist jetzt hundert Jahre her, aber wir müssen noch ein wenig weiter zurückgehen in der Geschichte des genagelten Schuhs. Im Jahre 1790 hatte der englische Tischler Thomas Saint eine Nähmaschine für das Nähen von Leder erfunden (British Patent No. 1764), das wusste man lange nicht. Man hatte die Urkunde im Patentamt falsch abgelegt. Sie wurde erst 1873 von Newton Wilson, einem Pionier der englischen Nähmaschinenindustrie gefunden, der dann ein Replikat von Saints Maschine gebaut hat. Ob Thomas Saint jemals eine seiner Maschinen gebaut hat, weiß man leider nicht.

Dieser Herr hat den ersten Tunnel unter der Themse gebaut, es ist Sir Marc Isambard Brunel. Der Vater des berühmten Isambard Kingdom Brunel (der ➱hier einen Post hat) hatte als königstreuer Franzose sein Heimatland in der Revolution verlassen müssen. Jetzt verhalf er – neben tausend anderen Erfindungen – der englischen Armee zu besseren Stiefeln im Kampf gegen Napoleon. Seine Maschinen konnten Schuhe mit Stahlnägeln nageln, fünfhundert am Tag. Doch es ist ein Amerikaner namens ➱Nathaniel Leonard aus Merrimac (Massachusetts), der 1829 eine Holzpflock- und Holznagelmaschine erfand. Die machte es möglich, die Holznägel automatisch durch die Sohle zu stechen. So konnten die Holznägel gleichmäßig eingeschlagen werden, das löste viele Probleme bei holzgenagelten Schuhen. Und die holzgenagelten Schuhe zieht das Bürgertum vor, man möchte auf dem Parkett keine Kratzer machen.

Die genagelten Schuhe bleiben durch das Jahrhundert für Landbevölkerung, Arbeiter und Armee die Standardschuhe (für Armee und Feuerwehrleute noch länger). Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis die genähten Schuhe en masse produziert werden. Es sind im 19. Jahrhundert immer wieder die Amerikaner, die die Erfindungen machen. Da ist zum Beispiel Gordon McKay, der sein Patent für eine angenähte Sohle an Lyman Reed Blake verkauft (hier kann man das Blake Verfahren sehen).

Und da ist natürlich Charles Goodyear Jr, der eine Maschine baut, mit der man rahmengenähte Schuhe herstellen kann (Jan Ernst Matzeliger sollten wir auch nicht vergessen). Die Geschichte der Erfindungen im Bereich der Schuhherstellung und die damit einhergehende Veränderung der Arbeitswelt scheint erstaunlicherweise niemanden wirklich zu interessieren. Symbolisch dafür ist Sigfried Giedion, der in seinem Standardwerk Die Herrschaft der Mechanisierung die Maschinen zur Schuhherstellung mit keiner Zeile erwähnt. Den sogenannten Rahmen eines rahmengenähten Schuhs können Sie hier sehen, es ist ein Lederband, das um den Schuh herumläuft. Das allerdings heute bei bei beinahe allen Schuhen, die als rahmengnäht bezeichnet werden, durch ein geklebtes Gemband ersetzt ist.

Als ich vor Jahren für die Firma IWC in Schaffhausen einen Artikel über ihren Firmengründer im Bürgerkrieg schrieb (Sie können den Artikel ➱hier lesen), stellte ich fest, dass Florentine Ariosto Jones nicht der einzige Uhrmacher im Regiment war. Das hätte ich mir denken können, Boston war die Metropole der amerikanischen ➱Uhrenindustrie. Ich konnte der Regimentsliste, die ich aufgetrieben hatte, auch entnehmen, dass das Regiment ungeheuer viel Schuhmacher in seinen Reihen hatte. Boston war auch das Zentrum der amerikanischen Schuhindustrie. Wenige Jahre vor dem Beginn des Bürgerkriegs hatte es einen Aufstand der Schuhmacher in Lynn gegeben, wobei die Arbeiter zur Melodie des Yankee Doodle sangen:

Starvation looks us in the face.
We cannot work so low.
Such prices are a sore disgrace.
Our children ragged go.

Abraham Lincoln, der sich bekanntlich seine ➱Schuhe selbst putzte, war auf der Seite der Streikenden: I am glad to see that a system of labor prevails in New England Under which laborers can strike when they want to, where they are not obliged to labor whether you pay them or not. I like a system which lets a man quit when he wants to, and wish it might prevail everywhere. Und so sangen die Schuhmacher nach dem Streik:

We strikers once for higher pay
With crowded ranks did cram Lynn;
We come with fuller ranks to-day
For Lincoln and for Hamlin.

The Southerners at us did sneer
And fiercely curse and ban Lynn,
But wilder yet will be their fear
Of Lincoln and of Hamlin.

Bold Robin Hood won Lincoln green,
And his sweet minstrel Gamelyn,
Were they alive they’d go, I ween,
For Lincoln and for Hamlin.

Like Sherwood’s king, we strike down wrong,
And while our town’s no sham Lynn,
We’ll wave our flag and go in strong
For Lincoln and Hamlin.

Der Streik von Lynn im Jahre 1860 – übrigens der größte ➱Streik der damaligen amerikanischen Geschichte – lehrt uns auch, dass die Schuhmacherei im 19. Jahrhundert ein System der Ausbeutung ist. Unter den tausenden von Schuhmachern, die im Schnee marschieren, sind auch viele Frauen. Die man ja besser ausbeuten kann als Männer, sie tragen Transparente mit der Aufschrift: American ladies will not be slaves. Give us fair compensation and we will labour cheerfully. Das Jahrhundert der Schuhmacherinnen hat begonnen, aber niemandem scheint das aufgefallen zu sein. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hatte das paternalistische Lowell System für die Textilproduktion in Massachusetts Aufsehen erregt, die jungen Arbeiterinnen sollten in reinlichen Neubauten wohnen, beaufsichtigt von moralischen Gouvernanten. Sie sollten nur einige Jahre in der Fabrik bleiben, bis sie genügend Geld für die Heirat gespart haben. Das waren schöne Gedanken, aber das System sah wenige Jahre schon ➱ganz anders aus. Auf dem Bild von ➱Winslow Homer ist die Arbeitswelt noch in Ordnung, das ist sie auf Bildern immer.

Im amerikanischen Bürgerkrieg sind die meisten Stiefel genagelt, es kommen aber auch schon die ersten genähten Schuhe zum Einsatz. Gordon McKay hatte einen Auftrag für 25.000 Stiefel erhalten. Die werden von den Soldaten zuerst spöttisch als fadeaways bezeichnet, weil sie nicht genagelt sind, halten sich aber erstaunlich gut. Der Süden verfügt nicht über die Schuhindustrie, die der Norden besitzt. Und so ist es kein Wunder, dass das Gerücht, dass es in Gettysburg eine ganze Zugladung Schuhe geben soll, die Truppen des Südens nach Gettysburg zieht. Das Ergebnis kennen wir.

Man beobachtet damals in Europa den Bürgerkrieg genau. Man beobachtet aber auch genau, was sich in der amerikanischen ➱Schuhindustrie tut. Der Sohn des Firmengründers der französischen Firma ➱J.M. Weston wird sich in Boston umschauen und in Amerika die ersten Maschinen kaufen. Und nicht nur das, auch der Firmenname kommt aus Boston, denn in Weston (Massachussetts) hatte Blanchard Jr in einer der zahlreichen Schuhfabriken gelernt. Die ersten großen europäischen Fabriken wie ➱Bally oder Bata (wo der Vater von ➱Tom Stoppard eines Tages Werksarzt sein wird) werden ihre Produktion auf Goodyear Maschinen umstellen. Und die beiden Macharten, Goodyear oder Blake (das die Italiener bevorzugen) beherrschen noch heute die Herstellung von Qualitätsschuhen. Von holzgenagelten Schuhen ist wenig zu hören.

Aber es gibt sie noch. Da wären zum Beispiel Firmen wie Fischer oder Handmacher, beide in Österreich zu Hause. Und generell kann man sagen, dass es das ehemalige KuK Österreich (oder wie es auf einer Internet Seite heißt: ➱The Savile Row of the East) ist, in dem der holzgenagelte Schuh überlebt hat. Noch heute bieten die feinen Wiener Schuhmacher wie zum Beispiel Balint, Materna und Maftei ganz selbstverständlich holzgenagelte Schuhe an. Über das Thema könnte ich jetzt noch länger schreiben, das lasse ich aber. Weil Sie jetzt den Post ➱Wiener Leisten anklicken, dann wissen Sie mehr.

Erstaunlicherweise findet sich in dem Prospekt der Firma Handmacher, den mir Michael Rieckhof mitgab, überhaupt nichts über die Technik des Nagelns, lediglich eine Überschrift wie In über 250 Arbeitsschritten zum fertigen holzgenagelten Lederschuh weist auf die Technik hin. Es gibt Informationen über die Rendenbach Sohlen (die man 6 oder 8 Millimeter dick bekommen kann), aber nichts über Vor- und Nachteile des holzgenagelten Schuhs. Und in dem eigenlich charmanten Buch von Laszlo Vass, Herrenschuhe handgearbeitet, kommen holzgenagelte Schuhe nicht vor.

Man scheint Vorbehalte und Ressentiments gegen diese alte Handwerkstradition zu haben. In den Internetforen, wo diese Fachleute sitzen, die die Flöhe husten hören, kommt der holzgenagelte Schuh schlecht weg. Als mir Michael Rieckhof die Teilnahme an einem ➱Seminar des Schuhpapstes Helge Sternke geschenkt hatte, zog der auch gegen holzgenagelte Schuhe her. Wofür er sofort von Frau Schade und Frau Ratzburg attackiert wurde, denn bei Kelly’s gibt es (genau wie bei Höfer in der Holtenauer Straße) Handmacher Schuhe. Es war ziemlich undiplomatisch (um nicht zu sagen schlicht doof) von Sternke. Und ich sollte vielleicht auch noch anfügen, dass ihn viele echte Kenner der Welt des Schuhs nicht für den echten Schuhpapst halten.

Holzgenagelte Schuhe sind in der Herstellung preiswerter als rahmengenähte. Auch bei Balint, Materna und Maftei (Bild), nicht nur bei Handmacher. Aber schlechter? Ich zitiere einmal das österreichische Wirtschaftsblatt aus dem Jahre 2010: Holzgenagelt oder genäht, das ist die eine Frage, die die Konkurrenten Handmacher und Ludwig Reiter tief entzweit, der Endverbraucherpreis für ein Paar Ledermaßschuhe die andere. Handmacher-Chef Bernhard Kovar meint, Reiter-Schuhe seien zu teuer.

„Ich sage Ihnen, die sind ihr Geld nicht wert“, meint der 63-jährige Welser. Er stellt im tschechischen Znaim holzgenagelte Herrenschuhe her, die auf 230 bis 360 € kommen. Der teuerste Reiter-Halbschuh kostet 500 €. „Wir produzieren ausschliesslich in Wiener Neudorf. Das kostet halt ein bissl mehr als in Niedriglohnländern“, kontert Reiter-Sprecherin Teresa Wlk. Marktführer Reiter verkauft 20.000 Paar Herrenschuhe pro Jahr, der vor 14 Jahren angetretene Herausforderer Handmacher mittlerweile 12.000.

Unser Sommer war im September, jetzt ist Herbst. Jetzt trage ich nicht mehr elegante Schuhe von Aubercy oder scharfe Schuhe von Stefano Branchini, jetzt kommen die soliden Schuhe aus Wien oder Budapest dran. Dieser schöne Schuh (für 35 Euro bei ebay gekauft) ist übrigens ein Crockett & Jones. Könnte genau so gut von Ludwig Reiter, Alt Wien oder Laszlo Vass sein. Ist aber nicht holzgenagelt, in ➱Northampton macht man das nicht mehr. Sind rahmengenähte Schuhe besser als holzgenagelte?

Ich weiß es nicht, ich selbst merke keinen Unterschied. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Interview mit einem Engländer gelesen, der einmal rund um England gewandert war. Er trug dabei stahlgenagelte Shepherd’s Boots. Mit normalen Schuhen hätte er das Ganze nicht geschafft, sagte er. Mir sagte einmal ein Schuhmacher: Wenn Sie mal 25 oder 30 Kilometer laufen müssen, dann werden Sie froh sein, wenn Sie genagelte Schuhe an den Füssen haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich bei der Infantrie gewesen sei und freiwillig keinen überflüssigen Schritt mehr zu Fuss machen würde. 25 Kilometer schon gar nicht. Mein Rekord stand auf 73 Kilometer an einem Tag, und da hatte ich keine genagelten Stiefel an den Füßen.

 

Und wenn der Schuh mal ganz schmutzig ist, dann waschen Sie ihn mit Saddle Soap, sagte die Verkäuferin. Und dann ist er hin, sagte ich. Sie guckte mich etwas irritiert an. Ich nahm ihr den Karton mit den Schuhen aus der Hand. Schauen Sie mal, was hier steht! Und damit meinte ich nicht den Schriftzug The Lloyd Premium Collection, sondern das Wort Cordovan. Und um ganz sicherzugehen, hatte noch jemand mit einem dicken blauen Stempel HORSE draufgestempelt. Der braune Pferdelederschuh war nicht von Lloyd in Sulingen hergestellt, auf dem Karton und in der Innensohle stand auch noch Made by Bally. Es ist einer meiner ältesten Bally Schuhe. Ich habe ihn immer noch. Habe ihn aber nie mit Saddle Soap geputzt. Dass sich Firmen Schuhe von anderen Herstellern machen lassen, ist nicht ungewöhnlich. Das hier oben ist ein Lloyd aus den sechziger Jahren, der von der Schweizer Firma Leiser (nicht zu verwechseln mit dem Berliner Händler) hergestellt wurde, man kann ihn von einer Firma namens Stiefelkombinat Berlin bei ebay kaufen.

Lloyd ist mit dieser Praxis kein Einzelfall. Dieser Crockett & Jones (Modell Westminster), der ein wenig Schuhcreme verdient hätte, wird zur Zeit bei ebay zu einem überhöhten Preis angeboten. Ich habe den gleichen Schuh (nagelneu) vor Jahren bei ebay für fünfzig Mark gekauft. Es stand allerdings nicht Crockett & Jones auf der Sohle, dieser C&J hieß schlicht Unützer. Wenn ein Händler – heiße er nun UnützerHerring oder Shipton & Heanage – genügend Schuhe abnimmt, verzichtet C&J auf seinen Namen auf dem Schuh (man kann den Schuh aber immer an dem Modellnamen und der Modellnummer identifizieren).

Nicht identifizieren kann man natürlich Schuhe, die stolz den Namen einer renommierten Firma tragen, aber keineswegs von ihr gefertigt wurden. John Lobb in London (hier der Firmenchef) gibt seine Maßschuhe außer Haus zu einzelnen Schuhmachern (sie haben ja in ihrer Geschichte genügend kleine Schuhmacher geschluckt), und Firmen wie Church’s, Crockett & Jones und andere haben auch schon einmal Lohnarbeiten nach ➱Portugal vergeben. Laszlo Vass beschäftigt etwas unterbezahlte Rumänen (böse Gerüchte wollen wissen, dass er sowieso nur in Rumänien herstellen läßt) und so weiter, und so weiter.

Und das bringt mich zurück zu Bally (ich musste mich erst ein wenig warmschreiben), einer Firma, die einmal alles im schweizerischen Schönenwerd produzierte. Dort war sie 1851 von Carl Franz Bally gegründet worden, der mit seinem Bruder Fritz die Hosenträgerfabrik des Vaters geerbt hatte. Aber dann kam alles anders, wie Alex Capus in Patriarchen: Zehn Porträts erzählt: Eigentlich wollte Carl Franz Bally im Frühjahr 1850 nur seiner Gattin Cecilie ein Paar schicke Stiefelchen aus Paris mitbringen. Da er aber ihre Schuhgröße nicht kannte, kaufte er gleich ein ganzes Dutzend. Auf der Heimreise in die Schweiz kam er beim Anblick so vieler Schuhe auf die Idee, die größte Schuhfabrik der Welt zu gründen. Dass er einer der reichsten und einflussreichsten Industriellen seiner Zeit werden sollte, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden.Er hatte in Paris nicht nur Schuhe für die Gattin gekauft, er hatte auch eine Schuhfabrik besucht, was ihn auf die Idee brachte, solch eine Fabrik auch in der Schweiz zu etablieren. Die industrielle Herstellung von Schuhen war eine Marktlücke, das hatte Bally erkannt.

Nicht allen gefiel der Aufstieg von Carl Franz Bally, der schon früh Maschinen aus Frankreich und den USA importiert hatte. So erhielt Bally 1864 einen anonymen Drohbrief: Aarau, im Wintermonat 1864. Geehrter Herr… Es geht beide an. Seit Sie die Schuhfabrik gegründet haben, hat mancher Schuster von Aarau und der Umgebung den Verdienst verloren. Es haben sich unser sechs verschworen Euch zu tödten, wenn Sie das Geschäft nicht aufgeben, oder Euch alles zu verbrennen. Ich hatte schon längst im Sinn Euch zu erstechen, denn ich habe fast kein Verdienst mehr. Im Namen der Verschworenen…

Hundert Jahre nach der Firmengründung lancierte Max Bally, der Enkel des Firmengründers eine neue Linie den Bally Scribe. Der war nach dem Pariser Hotel Scribe benannt, in dem Max Bally gerne abstieg. Im Zweiten Weltkrieg saß die deutsche Propagandaabteilung in dem Hotel, nach der Eroberung von Paris wurde es die Heimat der amerikanischen Kriegskorrespondenten. Auch Ernest Hemingway hat hier gewohnt. Er bekam eines Tages Besuch von einem englischen Nachrichtenoffizier, der sich als Eric Blair vorstellte. Der Name sagte Hemingway nichts, aber als der Offizier sagte: Ich bin George Orwell, sagte Hemingway: Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? und holte eine Flasche Whisky aus dem Koffer. Eine Luxuslinie wie Bally Scribe war 1951 eigentlich unnötig, denn die Qualität der Bally Schuhe war damals noch auf einem sehr hohen Niveau. Wahrscheinlich wollte man das schleppende Nachkriegsgeschäft etwas beleben.

Zwei Jahre nach der Einführung des Scribe konnte Ballys Werbeabteilung noch einen weiteren schönen Erfolg erzielen. Der Herr zwischen zwei Bally Direktoren ist Tenzing Norgay, der mit Edmund Hillary den Mount Everest bestiegen hatte. Der Schuh aus Rentierleder ist von Bally übrigens vor drei Jahren neu auf den Markt gebracht worden. Ich weiß allerdings nicht, wo man diesen Schuh tragen sollte. Die Bezwingung des ➱Mount Everest hatte auch eine kommerzielle Seite. Die Firma ➱Rolex, nie um eine Werbelüge verlegen, behauptete später, dass Hillary keine englische ➱Smiths, sondern eine Rolex am Arm gehabt hätte und stattete den Sherpa Tenzing Norgay für Werbephotos mit einer goldenen Rolex aus.

Die Firma Bally ist seit ihrer Gründung ständig gewachsen. 1860 gab es schon mehr als 500 Arbeiter, um die Jahrhundertwende waren es 3.200. In der Mitte des Ersten Weltkriegs beschäftigte das Unternehmen mehr als 7.000 Schuhmacher und produzierte 3,9 Millionen Paar Schuhe. Auch Militärstiefel für die französische und die deutsche Armee. Da kennen die Schweizer keine Neutralität, wenn es etwas am Krieg zu verdienen gibt. Ich könnte da noch an diese perfide Geschichte erinnern, wo der Chef der Firma Rolex Uhren über das Rote Kreuz an englische ➱Offiziere in deutschen Gefangenenlagern vertickt.

Militärstiefel bleiben bei Bally im Programm, man wird sie wieder gebrauchen können. Skistiefel gibt es auch, aber Toni Sailer wird nicht Bally tragen, wenn er seine Goldmedaillen gewinnt. Dem Toni macht Herr ➱Haderer aus Salzburg die Schuhe. Generell setzt Bally in den dreißiger Jahren auf sportliche Schuhe, es ist ja die Zeit, in der die Sportmode erfunden wird. Die auch vom ➱Prince of Wales propagiert wird. Es ist die Zeit, in der die englische Firma Daks-Simpson zu ersten Mal ➱Hosen ohne Hosenträger anbietet. Den sportlichen Schuh findet man bei Bally noch heute, ihre Schuhe neigen, wenn ich an die in meinen Kleiderschränken denke, eher zum Rustikalen als zu englischer Eleganz.

Allerdings gibt es da auch einen sehr eleganten schwarzen Schuh, der Bally Prestige (cousu trepointe) hieß. Das war das Äquivalent zu dem Scribe, der damals nicht mehr hergestellt wurde. Meiner sieht beinahe genau so aus wie dieser hier, hat aber ein Medaillon auf der Kappe. Der Schuh war auf der Brandsohle (und den Flanellsäckchen) verziert mit dem Bild eines mittelalterlichen Schuhmachers und einer kleinen Plakette aus Messing auf der Sohle. Die habe ich im letzten Jahr mal abgeschraubt und den Grünspan weggewischt, aber sonst ist der Schuh noch hervorragend. Alt, aber immer noch schön.

Apropos alte Schuhe. Im amerikanischen GQ (das damals ein hervorragendes Magazin war) las ich vor Jahrzehnten einem Artikel eines Mitglieds der Redaktion über seinen Besuch der englischen Hauptstadt. Er war auch in der Fischabteilung von Harrods, stand in der Schlange hinter einem älteren Herren und mokierte sich in seinem Bericht darüber, dass der ganz alte Schuhe trug. Wunderte sich, wie der hier bei Harrods die Preise bezahlen konnte.

Und da habe ich mir gedacht, dass die Amerikaner das nie verstehen werden. In England trägt der Gentleman durchaus alte Schuhe (die er ja angeblich von seinem Diener eintragen lässt). Dazu passt die schöne Anekdote, wo ein englischer Adliger einen Ausländer in seinen Club mitnimmt und sagt: Das hier vorne sind Bankiers und Devisenhändler, die sind irgendwie in den Club hereingekommen, keiner weiß wie. Man erkennt sie immer an den neuen Anzügen und den nagelneuen Schuhen. Dahinten in der Ecke sitzen die Herzöge, deren Großväter waren schon Mitglieder im Club. Man erkennt sie immer an ihren alten Savile Row Anzügen und ihren alten Schuhen.

Eine schweizer Regierungsrätin hat in einer ➱Rede über den Firmengründer gesagt: Carl Franz Bally war ein typischer Gründerjahr-Industrieller, wie sie damals die Anfänge der Schweizer Wirtschaft prägten. Die Zeit war reif für wirtschaftliche Veränderungen. So ist es kein Zufall, dass im Kanton Solothurn fast gleichzeitig im äussersten Westen und im östlichsten Teil Grundlagen für Weltfirmen geschaffen wurden (1851 zieht Bally die Schuhproduktion auf, Grenchen beschloss an einer Gemeindeversammlung die Einführung der Uhrenindustrie). Der Blick nach Grenchen auf die ➱Eterna und die ➱ASSA ist interessant, denn bevor die Schilds in Grenchen oder Bally in Schönenwerd ihre Fabriken gründeten, war da nichts. Wir stellen uns die Schweiz immer als ein reiches Land vor. 1850 war da gar nix. Und ohne die Ballys und die Schilds – und wie sie alle heißen – wäre da nur der Almöhi.

Das Bild hier zeigt das Wohnhaus Zum Felsengarten von Carl Franz Bally in Schönenwerd, das 1942 in ein Schuhmuseum umgewandelt wurde. Der Grenchner Professor Werner Flury hat in seinem 1907 erschienen Buch Die industrielle Entwicklung des Kantons Solothurn: Ein Beitrag zur wirtschaftlichen Heimatkunde Carl Franz Bally beschrieben: Scharfer Blick, nie ermüdende Ausdauer und Organisationstalent vereinigten sich in C.F. Bally, um ihn zu einem Führer der solothurnischen, ja der schweizerischen Industrie zu machen. 

Der Firma Bally liegt das materielle und geistige Wohl ihrer Angestellten und ihrer Arbeiter am Herz; hat sie doch aus eigener Initiative den 10-stündigen Arbeitstag eingeführt und ohne Lohnabzug den Samstag Nachmittag frei gegeben. Sie besitzt Kosthäuser in Schönenwerd, Aarau und Schöftland, wo für sage und schreibe 30 Rp. ein Mittagessen verabfolgt wird, das aus Suppe, Fleisch, Gemüse und Brot besteht. Kleinkinderschulen, eine Volksbibliothek, ein prächtiger Saal für Konzerte, Theater und Vorträge, Schwimm- und Badebassins – alles Schöpfungen der Firma Bally – stehen der Bevölkerung von ganz Schönenwerd gegen sehr niedrige Taxen zur Verfügung.

Die sozialen Maßnahmen, die hier gelobt werden, gehen nicht so sehr auf den Firmengründer (obgleich auch der ein progressiver Liberaler war), sondern auf seinen Sohn ➱Peter Eduard Bally zurück. Der auch in den 1870er Jahren in Amerika die ersten Goodyear Maschinen bestellt hatte. Gleichzeitig mit Flurys Darstellung erschien das Buch Schweizer eigener Kraft, das Carl Franz Bally zu einer Legende werden ließ. Die Memoiren von Bally sind unter dem Titel Pionier und Pfaffenschreck: Die Memoiren des Carl Franz Bally erschienen. Das mit dem Pfaffenschreck hat schon seine Berechtigung, seine Abneigung gegen die römische Klerisei und was daran hängt war sprichwörtlich. Mir gefallen Sätze wie Frech sind sie, diese Römlinge, und ungeniert! Der Industrielle und Politiker Bally wäre mir noch sympathischer, wenn er ein noch größeres soziales Bewußtsein gehabt hätte. Was diese patriachalisch soziale Komponente der Vorzeigeunternehmer des Kapitalismus betrifft, könnten Sie jetzt noch den Post ➱Ermenegildo Zegna lesen.

Heute sieht Bally so aus: Klamotten, Reisetaschen, Koffer, Accessoires. Und ja, auch noch Schuhe. Seit die Famile sich aus dem Konzern zurückgezogen hat, ist Bally hin- und herverkauft worden. Zwielichtige Finanzspekulanten und der Rüstungskonzern, den die Alliierten im Zweiten Weltkrieg bombardiert hatten, waren plötzlich die Besitzer einer Schuhfabrik, die jede Kontrolle über ihre weltweit tätigen Tochterfirmen verloren hatte. Der Name Bally bedeutete nur dann noch ein klein wenig, wenn Bally Suisse (oder Made in Switzerland) auf dem Schuh stand. Alles andere konnte man getrost vergessen.

Das ist schon ein Problem, wenn eine Firma immer größer werden will, Lizenzen vergibt, Tochterfirmen hat, die sie nicht mehr kontrolliert. Quantität geht zu Lasten der Qualität. Wenn man erst einmal wie Ermenegildo Zegna im Designerzentrum Neumünster angekommen ist, hat man auf dem Weg nach unten viel geschafft. Von Pierre Cardin wollen wir lieber nicht reden. Schon Carl Franz Bally wollte ein Global Player sein, deshalb erschloss er sich den südamerikanischen Markt (der im 19. Jahrhundert interessant ist, auch Schweizer Uhrenfirmen zieht es dahin). Ballys junge Firma wäre beinahe kurz nach der Gründung untergegangen: die Kunden bewunderten zwar die Qualität, fanden die Schuhe allerdings zu klobig. Das sind sie vielleicht heute noch. Aber Wegwerfschuhe waren sie nie.

Neuerdings, wo Bally einer der reichsten deutschen Familien gehört, schreibt man angeblich schwarze Zahlen. Und will sich auch wieder auf das Kerngeschäft, den Schuh, konzentrieren. Ob dieser Herr allerdings der richtige Sympathieträger ist, da bin ich mir nicht so sicher. Ein Teil der neuen Qualitätsoffensive war die Wiederbelebung der Scribe Linie, die vor kurzem noch durch eine Maßschuh Linie erweitert wurde. Braucht jemand die? Hier in Norddeutschland kann man sich für das gleich Geld von Harai in Neumünster, Klemann in Basthorst oder Hendrikje Ehlers in Berlin die Schuhe machen lassen.

Auch dieser Herr war einmal der Werbeträger von Bally. Wir können diesem Plakat von Otto Baumberger aus dem Jahre 1924 entnehmen, dass die vornehme Welt nicht unbedingt die Zielgruppe der Firme Bally ist. Zwar hat man zehn Jahre nach der Firmengründung schon Niederlassungen in Buenos Aires, Montevideo und Paris (und 1881 in der New Bond Street in London), aber man weiß, dass man Qualitätsschuhe (wenn auch von etwas klobiger Qualität) auch an andere Zielgruppen als die Haute Volaute verkaufen kann. Und das Wort klobig bringt mich direkt zu den neuen Scribe Modellen, die seit etwa zehn Jahren auf dem Markt sind.

Das da rechts ist ein Bally Scribe, Modell James. Es fällt bei diesem Photo  auf den ersten Blick nicht auf, wie groß der Schuh wirklich ist, ein richtiger Elbkahn. Mein alter Pferdelederschuh von Lloyd (= Bally) ist in der Größe 42 genau 29 Zentimeter lang, der James mißt 32 Zentimeter. Kann man nicht zu engen Hosen tragen, geht nur mit Cordhosen. Der Schuh passt aber wunderbar, das muss man ihm lassen. Die Scribe Linie, die vor zehn Jahren neu lanciert wurde, ist das Flaggschiff der Firma. Liegt preislich aber da, wo auch ➱Dinkelacker und Laszlo Vass sind. Mein Pferdelederschuh von Bally, der Lloyd hieß, sollte damals 349 Mark kosten (ich bekam ihn für die Hälfte), die Scribes kosten das Doppelte in Euro. Bally kann den Preis am Markt aber nicht wirklich durchsetzen, die Schuhe werden überall viel billiger verkauft.

Wer trägt so etwas? Der Grandseigneur des Chansons Maurice Chevalier trug blaue Wildlederschuhe von Bally, heute sind Bally Schuhe eher bei den Rappern beliebt:

The mirror said you are you conceited bastard 

Well that’s true, thats why we never have no beef 

So then I washed off the soap and brushed the gold teeth 

Used Oil Of Olay ‚cause my skin gets pale 

And then I got the files for my fingernails 

Chewed through the night and on my behalf 

I put the bubbles in the tub so I could have a bubble bath 

Clean, dry was my body and hair 

I threw on my brand new Gucci underwear 

For all the girls I might take home 

I got the Johnson’s Baby Powder and the Polo cologne 

Fresh dressed like a million bucks 

Threw on the Bally shoes and the fly green socks 

Stepped out my house stopped short, oh no 

I went back in, I forgot my kangol

Wenn Sie also hip sein wollen, dann tragen Sie Bally Schuhe mit grünen Socken. Und vergessen Sie die Kangol Mütze nicht.

Noch mehr Schuhe in den Posts: ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Wiener Leisten, ➱Englische Herrenschuhe (Trickers), ➱Englische Herrenschuhe (London) ➱Englische Herrenschuhe (Alfred Sargent), ➱Schuhe aus Portugal, ➱Italienische Herrenschuhe, ➱Französische Herrenschuhe ➱Dinkelacker, ➱Kuckelkorn, ➱Kiton/Chiton, ➱wayward cows, ➱Lord Byrons Schuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Wildlederschuhe, ➱Chelsea Boots, ➱Wirkungen, ➱Zeit der Unschuld, ➱Gamaschen, ➱Christian Rohlfs, ➱Laurence Harvey, ➱Blazer, ➱Morning Coat, ➱Fernandel, ➱Léo Malet, ➱Schuhcreme

Er hat nicht einmal einen deutschen Namen, der wholecut Schuh, aber er ist seit einigen Jahren modisch le dernier cri. Sogar bei der Firma Tyrwhitt, deren Angebot an Schuhen zurückgegangen ist, ist in den letzten Jahren immer mindestens ein wholecut im Programm gewesen. Der wahrscheinlich von der Firma Barker (oder vielleicht ➱Grenson?) gemacht wurde. Ein wholecut ist eine Variante des Schuhs, den wir Oxford nennen. Er ist aus einem einzigen Stück Leder gemacht und hat neben der Schaftkantennaht lediglich hinten eine sichtbare Fersennaht. Als der Oxford in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der englischen Herrenmode auftauchte, hatte er noch den Namen Oxonian. Ein Oxford ist ein förmlicher, kein sportlicher Schuh, geeignet für Menschen mit einem schmalen Fuß und einem nicht zu hohen Spann. Das letzte sollten Sie bedenken, wenn Sie mit dem Kauf eines wholecut liebäugeln sollten.

Diesen hier habe ich ohne nachzudenken gekauft. Ungetragen und sehr, sehr preiswert. Da tippt man schon mal die Sofort kaufen Taste an. Allerdings ist der Hersteller ein kleines Rätsel. Der Schuh heißt Windsor, die machen aber nun mal keine Schuhe. Früher kamen die Schuhe von Ludwig Reiter, dann wollte man die Verdienstspanne vergrößern und ging zu Prime Shoes. Einer Firma, bei der auch niemand weiß, wer dahinter steckt. Neuerdings scheint Windsor wieder bei Ludwig Reiter gelandet zu sein. Wenn der Schuh ankommt, werde ich ihn genau untersuchen.

Natürlich hätte ich im ersten Absatz statt le dernier cri auch der letzte Schrei sagen können, aber ich möchte einmal eben einen Blick auf die Franzosen werfen, die immer schon wunderbare wholecuts im Angebot hatten. Würde man diesen Schuh von Aubercy wirklich dem norddeutschen Schmuddelwetter oder der Hundescheiße auf den Straßen aussetzen wollen? Beim Anblick solcher Kunstwerke habe ich das Gefühl, dass man sie nicht tragen, sondern sie zu Hause auf eine kleine Marmorsäule stellen sollte. Wenn Sie noch mehr über französische Herrenschuhe lesen wollen, dann klicken Sie hier.

If you look up the word elegant in Dictionary.com the first definition that it gives is:“Tastefully fine or luxurious in dress, style, design, etc.” To me, the whole-cut dress shoe sums this definition up to a ‘T.’ The fact that it has no stitching (apart from the heel) leaves it completely refined and flawless. Obviously not every whole-cut ever made has fit this description but when they have been made properly, with a beautiful last shape, they are second-to-none on the stunning scale!! Das kann man in einem Blog lesen, der The Shoe Snob Blog heißt.

Ich bin mir bei diesen ganzen Mode Foren und Blogs nicht so sicher, in wieweit sie nicht nur als Blog getarnte Werbung der Modeindustrie sind. Der Blog Gazzettino von Michael Jondral (übrigens ein hervorragender Blog) macht keinen Hehl daraus, aber viele dieser sogenannten Foren scheinen nur Tarnorganisationen der Modeindustrie zu sein. Der Autor des lobhudelnden Textes über die Eleganz des wholecut Schuhs macht eine eine gewisse Einschränkung bezüglich der Eleganz der Variante des Oxfords: Obviously not every whole-cut ever made has fit this description. 

In einem Mode Forum wird immer zuerst eine Frage gestellt, die aber meistens eine Scheinfrage ist. Wie zum Beispiel: Has any of you experience of a wholecut style shoe? I have pasted a Tricker’s Harrow model to show an example. Do the inevitable creases after a few wears ruin the smooth and shiny look to an unwearable level? Needless to say that someone would use trees and polish, but even so creases appear where the toe bends. Any pictures of your own pair? Und schon ist Werbung für ➱Tricker’s gemacht und der Stein der Diskussion ins Rollen gebracht.

Meinem alten wholecut von Stefanobi sieht man kaum noch an, dass er ein wholecut ist. Es hat ihm aber gut getan, dass, als ich ihn vom Besohlen beim Schuster Höfer abholte, Frau Dworak sagte, dass ein Qualitätsschuh auch nach Jahren noch nach einem Qualitätsschuh aussieht. Dieser Edward Green Schuh in dunkel-oliv (ja, das ist ein klein wenig pervers) ist natürlich der Höhepunkt der Eleganz. Wenn man so etwas mag. Zu solchen Schuhen sollte man wahrscheinlich lila Samtjacketts tragen.

Eigentlich ist die Sache ganz einfach: wholecut Schuhe sehen nur elegant aus, wenn sie nagelneu sind und von einem berufsmäßigen Photographen wunderbar ins Licht gesetzt wurden. Und mit dem Photoshop System so behandelt wurden, dass sie eine Farbe bekommen, die Sie zu Hause mit Schuhcreme niemals hinkriegen. Wenn sie älter sind, bekommen wholecuts Falten, die sich nicht wie bei einem Kappenschuh oder einem Derby (im Englischen auch Blucher genannt) verteilen können. Dann sehen sie so aus wie dieser Schuh. Oder schlimmer. Ich habe dieses Photo aus einem unfreiwillig komischen Blog, wo sich jemand mit all seinen Klamotten und Schuhen (und Uhren) ins Bild gesetzt hat, um der Welt zu zeigen, was wahre Eleganz ist.

Der wholecut Schuh ist nicht unbedingt neu, es gibt ihn schon im Mittelalter. Bei den Ausgrabungen von Billingsgate hat man schöne Exemplare aus dem 12. Jahrhundert gefunden. Diese Schuhe sind einige Jahrhunderte jünger. Man kann so etwas in England kaufen, es gibt da offensichtlich einen Markt für solche Dinge. Wahrscheinlich trägt man so etwas, wenn man mit einem Krug Met in der Hand in Stonehenge auf die Mondfinsternis wartet, um mit den Wölfen zu heulen.

Seinen ersten großen Auftritt hat der wholecut in den dreißiger Jahren. So schreibt zum Beispiel ➱The Producer im Jahre 1936: A striking shoe fashion, new this season, is the whole-cut Oxford shoe, of black glace, with a Littleway square heel and five eyelets, bringing the vamp well over the foot. Dieses Modell hier ist aus dem Jahre 1934, ein Lackschuh für ➱Dinner Jacket und ➱Frack. Ich bitte Sie, die seidenen Schnürbänder und die wunderbare Schleife zu beachten. Und ähnlich sieht auch Debrett’s die Verwendung für den wholecut, wenn von der Ausstattung für den Frack die Rede ist: white bow tie (usually marcella), white evening waistcoat (again usually marcella), black ‚whole-cut‘ patent shoes with black ribbon laces, and black silk socks. Man kann in solchen Schuhen wahrscheinlich in Bayreuth in der Oper sitzen und sich diesen neuen Parzifal angucken, aber kann man auch mit ihnen tanzen? Ich habe da meine Bedenken.

Die meisten englischen Qualitätsfirmen (sogar die etwas langweiligen Tricker’s) haben einen wholecut im Programm. Hier ein Modell von ➱Alfred Sargent, das wie mein alter Stefanobi aussieht und mit dem Schuh von Aubercy im zweiten Absatz wenig Verwandtschaft hat. Sehr wenig.

Allerdings kann Alfred Sargent auch sehr, sehr elegante wholecuts machen, wenn wir uns mal eben dies Modell anschauen (es findet sich schon in dem Post ➱Wedding Night). Es ist eine seltsame Sache mit den ➱Engländern: sie können es genau so gut wie die Franzosen, Portugiesen, Italiener oder Spanier, aber sie machen es ungern. Pferdelederschuhe sind wie wholecuts auch so eine Sache, die die englischen Hersteller nicht unbedingt mögen.

Die werden in großem Stil auf einer anderen Insel hergestellt: Mallorca. Die Firma Carmina wirbt damit, der größte Hersteller von Cordovan Schuhen in Europa zu sein. Dieser hier kostet 690€. Neben der Firma Carmina von José Albaladejo gibt es auf Mallorca noch die Firma Meermin, die etwas preisgünstiger ist (und dass Herr ➱Kuckelkorn sich in Mallorca seine Schuhe machen lässt, sollte nicht unerwähnt bleiben). Die Spanier sind (wenn man an Marken wie Lotusse und andere denkt) im Bereich des preiswerten Qualitätschuhs zu einer Großmacht in Europa geworden. Auch der deutsche Internethändler Shoepassion, der für 239 Euro einen wholecut anbietet, bezieht seine Schuhe aus Spanien. Von der Firma Cordwainer, man kann eine Besprechung der Qualität der Shoepassion von jemandem, der sich Paul Prüfer nennt, hier lesen. Aber das Ganze ist wahrscheinlich auch nur gekaufte Werbung.

Wenn die Engländer nach einem möglichen Brexit (über den ja keine Volksabstimmung sondern das Parlament entscheidet) den Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlieren, wird die englische Schuhindustrie es schwer haben. Weil die Spanier und ➱Portugiesen all das können, was die Engländer können. Zumal es ja nicht unbekannt ist, dass englische Luxusfirmen auch schon einmal Lohnarbeit nach Portugal und Spanien vergeben haben. Und der Carmina wholecut aus dem Absatz oben sieht auch viel besser aus als dieses biedere Modell von Tricker’s.

Sie werden das schon gemerkt haben, dass ich nicht unbedingt ein Fan des wholecut Schuhs bin, eigentlich braucht man ihn nicht wirklich. Vor allem, wenn er nach kurzer Zeit so aussieht wie dieser Schuh von ➱Oliver Sweeney. Ich habe mir vor Jahren einen wholecut bei Tyrwhitt gekauft, der geradezu absurd im Preis gefallen war. Das tun die Artikel bei Tyrwhitt ja immer, allerdings nicht so stark wie dieser Schuh. Ich schaute einmal routinemäßig in das Forum Ask Andy about Clothes hinein, fand dort den Satz and the wholecut in particular develops more creases than an elephant und wusste, dass ich den Schuh kaufen konnte. In diesen Foren wird nur gelogen. Mein dunkelbrauner Tyrwhitt wholecut sieht nach sechs Jahren immer noch hervorragend aus.

Ich habe mir etwas Hübsches für den Schluss aufbewahrt. Das ist kein fullbrogue, das ist ein wholecut mit aufgestepptem Muster. In einer wunderbaren Farbe. Ich konnte bei diesem Modell dem Kauf nicht widerstehen. Weil der Schuh mich an die Kurzgeschichte The story of Cedric erinnerte. Ich habe das ➱hier schon einmal zitiert, aber ich zitiere es gerne noch einmal:

Das schönste Beispiel für Schuhetikette findet sich bei dem unübertroffenen Meister des englischen Humors ➱P.G. Wodehouse. In der Kurzgeschichte The story of Cedric trifft der eleganteste Mann Londons (sprich: der Welt) eines Morgens im Hyde Park die junge Lady Chloe und seinen Freund Claude. Der ist auf dem Weg zu einer Hochzeit, elegant gekleidet im ➱Morning Coat. Allerdings die Schuhe! Lady Chloe bekommt beinahe einen Herzinfarkt. Gelbe Schuhe. The foot-joy! The banana specials! The yellow perils! Der junge Claude sagt naiv: Don’t you like them? I thought they were rather natty. Just what the rig-out needed, in my opinion, a touch of colour. It seemed to me to help the composition. Mit einem Augenaufschlag, dem kein Mann widerstehen kann (ich weiß nicht, wo Frauen das lernen, aber es funktioniert ja immer) bittet Lady Chloe unseren Cedric, mit seinem jungen Freund die Schuhe zu tauschen. Als die beiden fort sind, merkt der eleganteste Mann Londons, dass er jetzt ein kleines Problem hat. Er steht in einem eleganten Morning Coat mit gelben Schuhen (!) im Hyde Park. Über den weiteren Gang der Geschichte sei hier nichts verraten, man kann es in der Sammlung Mr Mulliner Speaking aus dem Jahre 1929 nachlesen. Die Heiligen Crispin und Crispinian mögen verhüten, dass wir je in eine solche Lage kommen.

Ein gelber Schuh zum Cutaway ist natürlich immer noch besser, als wenn der Bräutigam zur Hochzeit so erscheinen würde wie auf diesem Cartoon von ➱Ronald Searle:

Noch mehr Schuhe in den Posts: ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Wiener Leisten, ➱Englische Herrenschuhe (Trickers), ➱Englische Herrenschuhe (London)Englische Herrenschuhe (Alfred Sargent), ➱Französische Herrenschuhe, ➱Schuhe aus Portugal, ➱Italienische Herrenschuhe, ➱holzgenagelt, ➱Dinkelacker, ➱Kuckelkorn, ➱Kiton/Chiton, ➱wayward cows, ➱Lord Byrons Schuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Wildlederschuhe, ➱Chelsea Boots, ➱Wirkungen, ➱Zeit der Unschuld, ➱Gamaschen, ➱Christian Rohlfs, ➱Laurence Harvey, ➱Blazer, ➱Morning Coat, ➱Fernandel, ➱Léo Malet, ➱Schuhcreme

 

Wenn man (Mann) in den sechziger Jahren chic war, dann sah man so aus. Wie ➱Peter Frankenfeld, hier einmal ohne seine großkarierten Jacken (bei karierten Jacken fällt mir immer Herr ➱Gauland ein, um den es so merkwürdig still geworden ist). Peter Frankenfeld – und viele andere Schauspieler wie zum Beispiel ➱Curd Jürgens – machte Werbung für die Miltenberger Kleiderwerke (MKW). Die gibt es heute noch, sie heißen allerdings heute Daniel Hechter. Das war mal ein berühmter französischer Modeschöpfer, der ein klein wenig fußballverrückt war.

Er war der größte Geldgeber für Paris Saint-Germain, für die er auch einen neuen Dress entwarf. Hier sitzt er als Präsident von PSG neben Robert Vicot und Just Fontaine im Stadion. Er trägt ein schlichtes T Shirt (auf dem Daniel Hechter steht), wir sind im Jahre 1971, da ist das vielleicht revolutionär. Revolutionär sind sicher auch von einem Designer entworfene Jerseys. Auch die seltsamen Jerseys, die die gerade in Frankreich Fußball spielenden Millionäre tragen, zeigen ja viel Designwillen.

Hechter hat auch einmal die Kleider für ➱Brigitte Bardot entworfen. Was wohl keine so große Leistung ist, an Brigitte Bardot hätte in den fünfziger und sechziger Jahren auch ein Müllsack gut ausgesehen. Ja, Daniel Hechter war mal berühmt. Zuerst war er ein Couturier, dann erfand er das Prêt-à-porter (angeblich de luxe). Lizenzen bringen viel Geld. Macht ja heute jeder in Paris, ➱Lagerfeld auch. Ich hatte mal ein grünes Samtjackett von Hechter, dessen Revers und Taschen mit einem dünnen Lederrand paspeliert waren, sah toll aus. War aber schon etwas zu klein, als ich es in Paris kaufte. Wurde auch später leider nicht größer.

Solche Teile gab es wahrscheinlich in Deutschland nicht, weil hier die Firma von Otto Aulbach die Lizenz für Daniel Hechter hatte. Die hatten auch den Namen von ➱Christonette of Copenhagen gekauft hatte, allerdings sahen ihre Produkte den ehemaligen dänischen Luxusprodukten überhaupt nicht ähnlich. Auf diesem Photo aus dem Jahre 1972 trägt der Herr mit Sonnenbrille (it’s never too dark to be cool) Daniel Hechter, der Mann daneben ➱Ralph Lauren. Als sich der Pariser Modeschöpfer, der wie ➱Pierre Cardin seinen Namen überall hin verkauft hatte, zur Ruhe setzte, kaufte die Miltenberger Otto Aulbach den Namen.

Auf die Wikipedia Seite von Miltenberg haben es die Firmenchefs von Daniel Hechter nicht geschafft. Er hier dagegen schon, es ist der Maler Philipp Wirth, der am 7. Juli 1808 in Miltenberg geboren wurde. Mit Mode hatte er auch ein klein wenig zu tun, er war Portraitmaler, da achtet man (vor allem die Kundschaft) schon mal auf die Mode. Was wäre aus ➱Thomas Lawrence geworden, wenn er kein Gespür für Mode gehabt hätte? Und Anders Zorn wäre nichts ohne Otto Bobergh, dem Compagnon von ➱Charles Frederick Worth, geworden. In solch erlauchter Gesellschaft hat sich Philipp Wirth nicht bewegt, aber ein klein wenig Mode hat er von zu Hause mitbekommen: sein Vater war Hutmacher.

Wirth ist nicht nur in Miltenberg geboren (hier am Marktplatz hat er gewohnt), er ist dort auch siebzig Jahre später gestorben. Hoch begabt, unverstanden, arm verstorben, längst vergessen. Der Maler (und Photograph) Philipp Wirth, der sich auf Portraits spezialisierte (aber auch Landschaften malte), war jedoch nicht sein Leben lang in Miltenberg. Er hat in München und Wien Malerei studiert, Reisen führten ihn nach London und Paris. Die Reise nach Paris war dem Würzburger Abendblatt im November 1843 eine Notiz wert: Unser Landsmann, der tüchtige Porträtmaler Wirth, hat heute hiesige Stadt verlassen, um sich nach Paris zu begeben und dort längere Zeit der Kunst zu widmen. Bei der Reise nach England ist Wirth mit dem neuen Medium Photographie in Berührung kommen, er wird später mit seinem Bruder in Miltenberg ein Photostudio eröffnen, das aber keinen großen Erfolg hat. Wichtiger bei der Englandreise war, dass er in Windsor Castle Bilder von van Dyck kopiert hat, was für ihn zu einer Vorlage für seine Portraitmalerei wurde.

In Paris wird sich Wirth dem ➱Aktzeichnen widmen: Die Tatsache, daß sich Philipp Wirth in Paris noch einmal mit Aktzeichnen beschäftigt, liegt vielleicht darin begründet, daß seine Halb- oder Ganzfigurenporträts immer noch oft fehlerhafte Proportionen aufwiesen, schreibt Wolfgang Kimpflinger in seiner Dissertation Philipp Wirth, ein fränkischer Maler des 19. Jahrhunderts. Die hervorragende Dissertation (324 Seiten, 129 Abbildungen, 8 Farbabbildungen) wurde vom Geschichts- und Kunstverein Aschaffenburg gedruckt, um einem großen Miltenberger Maler des 19. Jahrhunderts Tribut zu zollen. Sie ist heute immer noch antiquarisch zu finden. Kostet um die zwanzig Euro. Dafür kann man natürlich auch bei ebay zwei Daniel Hechter Jacketts kaufen, aber die Dissertation ist die bessere Anlage. Bildung und Kunstgenuss ist immer wichtiger als Klamotten.

Paris bedeutete für die Familie von Otto Aulbach aus Miltenberg den geschäftlichen Erfolg, für Philipp Wirth ist es die große Enttäuschung. Nach kurzer Zeit kehrt er krank und depressiv nach Miltenberg in das Haus seiner Eltern zurück. Aber er hat in dieser Zeit ein Bild gemalt, für das er berühmt wurde. Allerdings sehr viel später. 1918 kaufte Gustav Pauli für die Kunsthalle Hamburg dieses Selbstportrait mit Zylinder an, die Arbeit eines Vergessenen. Das Dunkel, das die Person dieses Künstlers umhüllt, war bis vor kurzem sogar noch viel tiefer als das, in dem sich Rayski verbarg. Das schrieb Pauli, für den Wirth eine der tragischen Erscheinungen jener Zeit, in der so oft bedeutende Künstler an der Verständnislosigkeit erlahmen mußten war, später in einem Führer für die Kunsthalle. Und er brachte bei Wirths Bildern, deren Einfachheit und Glanz des Vortrages Eigenschaften aufweist, die längst vor Manets Auftreten an dessen Kunst erinnern, den Namen ➱Manet ins Spiel. Wahrscheinlich, weil das Selbstportrait von der Farbe schwarz lebt.

Der Direktor der Hamburger Kunsthalle Gustav Pauli ist eigentlich ein Bremer (und war zuvor Direktor der ➱Kunsthalle Bremen). Und weil Jay auch ein Bremer ist, hat er ihn schon in einer Vielzahl von Posts erwähnt. Nicht nur, weil Pauli der Gatte jener Frau war, die unter ihrem Pseudonym Marga Berck diese herzzereißende Liebesgeschichte ➱Sommer in Lesmona geschrieben hat. Pauli war 1918 nicht der einzige, der die Kunst von Philipp Wirth lobte. Auch der Kunsthistoriker Karl Lilienfeld pries 1918 in der Zeitschrift für bildende Kunst den Maler mit einem Aufsatz: Philipp Wirth, ein vergessener deutscher Meisterporträtist.

Vierzig Jahre nach seinem Tod war der Maler für einen Augenblick lang berühmt. Es währte nicht lange. Danach, schreibt Wolfgang Kimpflinger in seiner Dissertation, wird Philipp Wirth nur noch von der lokalen Forschung beachtet. Seinen Nachlaß rettete Ende des letzten Jahrhunderts der Miltenberger Sammler Oskar Winterhelt und bewahrte ihn später vor allzu großer Verstreuung. Der Architekt Oskar Winterhelt war ein notorischer, geradezu manischer Sammler; und da er aus Miltenberg kam. lag ihm der Miltenberger Maler Wirth natürlich am Herzen.

Den Grundstock seiner Sammlung bildete der Nachlass von Philipp Wirth. Der war im Besitz von dem Kaufmann Emanuel Lindheimer, bei dem der verarmte Maler die letzten acht Jahre seines Lebens gewohnt hat. Wirth hat seinen Wohltäter gezeichnet (Bild) – irgendwie sieht er ein wenig wie der Maler selbst aus. Winterhelt ordnete den Nachlass und versah die Rückseiten der Skizzen und Gemälde mit Notizen. Diese Notizen gehören heute beinahe zu den einzigen Quellen zum Werk von Philipp Wirth.

Oskar Winterhelt vermachte zu seinen Lebzeiten einen Teil der Sammlung an das Miltenberger Museum. Nach seinem Tod 1958 bot seine Witwe der Stadt die restlichen Werke zum Kauf an. Es war der Stadt zu teuer, stattdessen kaufte das Städtische Museum Aschaffenburg die Reste von Winterhelts Sammlung. Das ➱Miltenberger Museum, das 1978 eine Gedächtnisausstellung und 2008 eine große Ausstellung organisierte, besitzt heute circa 180 Gemälde, Zeichnungen, Skizzen und Aquarelle. In Aschaffenburg hat man etwa das Dreifache. Für die Ausstellung von 2008 hatte man sich aus Hamburg das Selbstportrait mit dem Zylinder ausgeliehen. Der Versicherungswert betrug 35.000 Euro, eigentlich zu wenig für ein Bild, das schon als Vorläufer des Impressionismus gefeiert worden ist.

Wenn Sie mehr über die deutsche Herrenmode aus der Zeit, als Frankenfeld MKW trug, wissen wollen, kann ich die Post ➱Made in Germany, ➱Markenname Windsor und ➱Herrenausstatter empfehlen.

 

Diese junge Dame vor der Kamera heißt Micheline Bernardini, sie ist neunzehn Jahre alt. Sie präsentiert hier am 5. Juli 1946 in einer Badeanstalt die neueste Kreation von Louis Réard. Der über die 194 Quadratzentimeter Stoff sagte: Der Bikini ist so klein, dass er alles über die Trägerin enthüllt bis auf den Geburtsnamen ihrer Mutter! Er ließ sich das Kleidungsstück, das es schon seit den alten Römern gegeben hatte, sogleich beim französischen Patentamt als Gebrauchsmuster schützen. Die Nackttänzerin (oder sollen wir Revuegirl sagen?) Micheline Bernardini erhielt viel Post aus aller Welt.

Aber sie wurde auf der Bühne des Casino de Paris nie so berühmt, wie es wenige Jahre später Rita Renoir im Crazy Horse Saloon wurde. Die schaffte es sogar, von der Schickeria und Intelligenzija akzeptiert zu werden. Kam auch zum Film. In etwas zweifelhafte Streifen wie hier in ➱Mono di Notte, aber sie durfte auch in ➱Michelangelo Antonionis Die Rote Wüste mitspielen. Die Königin des Pariser Striptease ist vor wenigen Monaten im Alter von 82 Jahren gestorben.

Die Photos von Mademoiselle Micheline Bernardini wurden im Pariser Bad Piscine Molitor gemacht, um zu demonstrieren, dass es sich hier um Badebekleidung handelte. Die sich – wenn wir dieses Photo von der Jahrhundertwende betrachten – nun freizügiger gibt. Damals verhüllte man sich noch. Als ich klein war, besaß ich keine Badehose, sondern einen Badeanzug (der kommt schon in dem Post ➱John Hoppner vor), die Sache mit den Pariser Zweiteilern brauchte einige Zeit, bis sie sich an den ➱Weserstrand herumsprach.

Modehistorisch war das Kleidungsstück nicht unbedingt neu, das Monsieur Réard der Welt (beziehungsweise der Presse) am Körper der einzigen Frau in Paris, die das anzuziehen wagte, präsentierte. Wenn Sie den Wikipedia Artikel lesen, können Sie sehen, dass schon die Römer so etwas kannten. Und dass ➱Eva Braun ihren germanischen Körper damit bedeckte. Und dass Hollywoodschönheiten wie hier Ava Gardner schon lange vor dem Jahr 1946 einen Zweiteiler trugen. Aber da gibt es Einschränkungen.

Für die Miss World Wahl im Jahre 1951 zum Beispiel war der Bikini nicht akzeptabel, der Vatikan wetterte auch gegen das Kleidungsstück. Und für das sittenstrenge puritanische Amerika war der kleine Bikini von Micheline Bernardini keineswegs annehmbar: der Bauchnabel musste in Amerika bedeckt sein. Man kann das sehr schön hier an Rita Hayworth sehen, auch die junge ➱Marilyn Monroe trug ein ähnliches Modell. ➱Ursula Andress durfte allerdings als schaumgeborene Venus in Dr No schon einen richtigen Bikini tragen.

Nach dem Bikini kam der Monokini von Rudi Gernreich, hier wiederum in einem Schwimmbad präsentiert. Wir wissen, dass sich dieses Bekleidungsstück in der Damenwelt nicht wirklich durchgesetzt hat. Erstens war es völlig unpraktisch und zweitens sahen selbst hübsche Frauen darin bescheuert aus: Although Gernreich believed he was freeing women from the bonds of fashion, the response to the Monokini was more witty entertainment than women’s liberation—a freakish joke at women’s expense.

Größeren Erfolg hatte da der von Margit Fellegi für die Firma Cole of California entworfene Scandal Suit. Hier wird er von der Schauspielerin Joan MacGowan getragen. Die Bildunterschrift lautet: Isn’t it time somebody created an absolutely wild scandal for nice girls? Mit Lycra zusammen gehalten, damit sich nicht zu viel öffnet, konnten sich auch nice girls und Californian blondes ein klein wenig skandalös fühlen. Gernreichs und Fellegis Entwürfe datieren aus den frühen sechziger Jahren, heute sind Monokini und Scandal Suit im Museum, der Bikini hat sich durchgesetzt.

Wahrscheinlich ist – auf jeden Fall für Europa – mal wieder ➱Brigitte Bardot an allem Schuld. Dieses 1953 am Strand von Cannes gemachte Photo war der Beginn ihrer Karriere. Niemand kannte sie in Cannes, nach diesem Photo kannte sie die Welt. Eine neue Bombe ist geplatzt, und am nächsten Tag spricht die ganze Welt nur vom Bikini von BB, schreiben Patrice Gaulupeau und Ghislaine Rayer in ihrem Buch Bikini, la Légende. Seit Louis Réard sein Kleidungsstück Bikini nannte und es als Die erste anatomische Bombe bezeichnete, ist die mit Frauen verbundene Bombenmetaphorik nicht wegzubekommen.

Der Bikini hat seinen Namen nach dem Bikini Atoll. Wo die Amerikaner ihre neuesten Atombomben testen. Und nun wird es ein klein wenig pervers. Die Atombombe, die die Amerikaner auf das Bikini Atoll werfen, heißt Gilda und trägt das Bild von ➱Rita Hayworth. Im Film Gilda geht es auch um böse Nazis und Atombomben. Es wäre ja verlockend, dazu etwas zu sagen, aber ich überlasse das Wort mal eben dem Princeton Professor Michael Wood, der in seinem Buch America in the Movies ein schönes Kapitel mit dem Titel Put the Blame on Mame hat:

The symbolism is enough to frighten off any but the most intrepid Freudians: the bomb dropped on Bikini was called ‚Gilda‘ and had a picture of Rita Hayworth painted on it. The phallic agent of destruction underwent a sex change, and the delight and terror of our new power were channeled into an old and familiar story: our fear and love of women. We got rid of guilt, too: If women were always to blame, starting with Eve perhaps, or Mother Nature, then men can’t be to blame. And in any case, as every steady moviegoer knows, women themselves aren’t really to blame, because they can’t help it. Sirens all, they sing men to their doom (sometimes doom is just domesticity), without meaning any harm.



Lesen Sie auch: Gilda

 

Heute entscheidet es sich, ob Großbritannien die EU verlassen will, man hat den schönen Namen Brexit dafür gefunden. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das Vereinigte Königreich überhaupt jemals in der EU gewesen ist. Die haben ja so viele Ausnahmen eingeräumt bekommen wie kein anderer Staat. Der Engländer redet nicht gerne von Europe, eher von dem Continent. Wie in der berühmten Schlagzeile: Fog in Channel; Continent Cut Off.

Es scheint nur angemessen, heute ein wenig über England zu schreiben. Ich schreibe einmal über zwei englische Könige, die beide zurückgetreten sind – die einzigen in den letzten tausend Jahren. Der eine kommt aus Frankreich und geht nach England. Er ist der Nachfolger des Königs Edward III, der 1373 mit Portugal den ältesten europäischen Vertrag in Windsor abgeschlossen hat.

Wo man lesen kann: As true and faithful friends the contracting parties shall henceforth reciprocally be friends to friends and enemies to enemies and shall assist, maintain and uphold each other mutually by sea and by land against all men that may live or die, of whatever dignity, station rank or condition they may be, and against their lands realms and dominions (lesen Sie mehr in ➱Schuhe aus Portugal). Der andere König ist ein Engländer, der nach Frankreich geht, damit seine Ehefrau die Engländer nicht mehr ertragen muss: I hate this country. I shall hate it to my grave, hat sie zu ihm gesagt. Ich fange mal mit dem Franzosen aus Bordeaux, der nach England kommt, an.

What, are they dead? fragt der Diener den Gärtner in Shakespeares Richard II. Und der antwortet:
They are; and Bolingbroke
Hath seized the wasteful king. O, what pity is it
That he had not so trimm’d and dress’d his land
As we this garden! We at time of year
Do wound the bark, the skin of our fruit-trees,
Lest, being over-proud in sap and blood,
With too much riches it confound itself:
Had he done so to great and growing men,
They might have lived to bear and he to taste
Their fruits of duty: superfluous branches
We lop away, that bearing boughs may live:
Had he done so, himself had borne the crown,

Which waste of idle hours hath quite thrown down.

Wir sind in der berühmten ➱garden scene des Theaterstücks. Die hat nichts mit dem englischen ➱Landschaftsgarten zu tun, dieser Garten steht symbolisch für das Königreich: O, what pity is it That he had not so trimm’d and dress’d his land As we this garden! Der König Richard wird von seinem Vetter Henry Bolingbroke zur Abdankung gezwungen und wandert in den Tower. Danach in das Schloss Pontefract (oder Pomfret), das wir hier im Bild sehen können. Dort kommt er im Februar 1400 zu Tode. William Shakespeare hat in seinem Drama Richard III (Richard III, der am Erfolg von ➱Leicester City nicht ganz unschuldig ist, hat ➱hier schon einen Post) gedichtet:

Pomfret, Pomfret! O thou bloody prison,
Fatal and ominous to noble peers!
Within the guilty closure of thy walls
Richard the second here was hack’d to death;
And, for more slander to thy dismal seat,

We give thee up our guiltless blood to drink.

Und er bringt in Richard II auch die Abdankung und den Tod auf die Bühne. Die Abdankungsszenen wurden ihm von der Zensur gestrichen, keine Ausgabe des Stückes, die zur Zeit von Elisabeth I gedruckt wurde, enthält sie. Könige danken nicht ab. Wahrscheinlich wurde Richard auch nicht ermordet, wie der grandiose Geschichtsfälscher William Shakespeare uns sagt. Wahrscheinlich ist er in dem kalten Februar 1400 in Pomfret erfroren. Oder verhungert. Das Schicksal seines Cousins ist Bolingbroke, der jetzt Henry IV ist, ziemlich gleichgültig. Er will die Herrschaft des Hauses Lancaster sichern.

Und obwohl das royale Gemetzel der Rosenkriege noch nicht begonnen hat, beginnt es vielleicht doch schon mit der Abdankung von Richard von Bordeaux. Er ist dreiunddreißig Jahre alt, wenn er stirbt. Auf den Thron kommt er mit zehn Jahren, in einer unsicheren Zeit, ständig vom Tode bedroht. Er ist ein seltsamer Mann gewesen. Einer der ersten englischen Könige, der Englisch spricht und in Maßen ein Schöngeist ist. Er fördert Dichter wie ➱Geoffrey Chaucer und John Gower. Und ist sehr modebewusst. Auf der anderen Seite ist er ein Tyrann, der seine Feinde erbarmungslos niedermetzeln lässt. Und der seinen Garten verkommen lässt, wie uns der Gärtner des Duke of York in Shakespeares Stück sagt. Am 30. September 1399 wird Richard im Tower seine Abdankung unterzeichnen. Und der Hoffnung Ausdruck verleihen.  that his cousin would be a good lord to him.

Es wird länger als ein halbes Jahrtausend dauern, bis wieder ein englischer König abdankt. Der hat heute Geburtstag. Edward VIII wandert aber nicht in den Tower oder nach Pomfret. Dass er von Hitler begeistert war, wird ihm nicht vorgehalten. Er bekommt den Titel eines Herzogs von Windsor und kann endlich seine geliebte Wallis Simpson heiraten. Und zieht nach Frankreich, dem Land, aus dem Richard von Bordeaux kam. Es hat ihm nicht gefallen, König zu sein: The ceremonial framework that provides the public with a romantic illusion of the higher satisfaction of kingship actually disguises an occupation of considerable drudgery. Irgendwie kann man da nur Weichei sagen. Hat sich ➱Lisbeth jemals über die Mühen des königlichen Alltags beklagt?

Edward VIII ist neben Edward V der einzige englische König gewesen, der nicht gekrönt wurde. Er war zurückgetreten, bevor man die Krönung ausrichten konnte, Edward V (hier mit seinem Bruder im Tower) war schon umgebracht worden, bevor es dazu kam. König zu sein ist in England eine gefährliche Sache. Königin zu sein noch viel mehr, denken wir an die ➱Gattinnen von Heinrich VIII. Richard II war zweimal verheiratet (Edward VIII hatte zahlreiche Geliebte, bevor er Wallis Simpson begegnete), beide Frauen waren minderjährig.

Richards Witwe Isabelle de Valois (die hier gerade von ihrem Vater dem englischen König Richard übergeben wird) geht nach Frankreich zurück. Sie ist elf Jahre alt. Sechs Jahre später heiratet sie ihren elfjährigen Cousin Charles d’Orléans, sie stirbt bei der Geburt ihrer Tochter. Charles wird Herzog von Orléans und ein Dichter werden. Und wird nach England kommen, allerdings unfreiwillig. Er wird in der Schlacht von Azincourt gefangen genommen und bleibt für ein Vierteljahrhundert der Gefangene des englischen Königs. Da kann er dann besser Englisch als Französisch – das Englische hat seit Richard II das Französisch am Hof verdrängt. Er schreibt auch Gedichte auf Englisch:

 

Whan fresshe Phebus day of seynt valentyn 
Had whirlid vp his golden chare aloft 
The burned bemys of it gan to shyne 
In at my chambre where y slepid soft 
Of which the light that he had with him brought  
 
He wook me of the slepe of heuynes 
Wherin forslepid y all the nyght dowtles 
Vpon my bed so hard of newous thought 
 
Of which this day to parten there bottyne 
An oost of fowlis semblid in a croft 
Myn eye biside and pletid ther latyn 
To haue wt them as nature had them wrought 
Ther makis forto wrappe in wyngis soft 
ffor which they gan so loude ther cries dresse 
That y ne koude not slepe in my distres 
Vpon my bed so hard of newous thought 
 
Tho gan y reyne wt teeris of myw eyne 
Mi pilowe and to wayle and cursen oft 
My destyny and gan my look enclyne 
These birdis to and seide ye birdis ought  
To thanke nature where as it sittith me nought 
That han yowre makis to yowre gret gladnes 
Where y sorow the deth of my maystres 
Vpon my bed so hard of noyous thought 
 
Als wele is him this day that hath him kaught  
A valentyne that louyth him as y gesse 
Where as this comfort sole y here me dresse 
Vpon my bed so hard of noyous thought Sie können das Gedicht ➱hier in mehreren Sprachen lesen und es sich vorlesen lassen. Das Wort newous (oder noyous) in der Zeile Vpon my bed so hard of newous thought bedeutet so viel wie harmful, painful, displeasing – der Dichter ist immer noch unglücklich mit seiner Gefangenschaft, die Tränen und Schlaflosigkeit bringt. Der Brexit wird den Engländern auch Tränen und Schlaflosigkeit bringen.

 

Mit Dichtern hat der zweite König, um den es heute geht, nun überhaupt nichts am Hut. Ich stelle hier noch einmal einen Post hin, der schon am ➱20. Januar 2011 hier stand. Wurde nicht so recht gelesen, was war da los?Eigentlich hieß er David, auf jeden Fall in seiner Familie. König wurde er als Edward VIII, später war er Herzog von Windsor. Er bewunderte die Nazis und war der bestgekleidete Mann seiner Zeit. Er hatte auch eine Knopfsammlung von allen englischen Uniformknöpfen. Viel weiter gingen seine intellektuellen Interessen nicht.

Look at this extraordinary little book which Lady Desborough says I ought to read. Have you ever heard of it? fragt er seinen Privatsekretär. Das extraordinary little book war Charlotte Brontës Jane Eyre. Einmal bewirtet er den Romanautor ➱Thomas Hardy. Um in der etwas frostigen Atmosphäre ein wenig Konversation zu machen, verblüfft er Hardy mit den Sätzen: Now, you can settle this, Mr Hardy. I was having an argument with my Mama the other day. She said you had once written a book called ‚Tess Of The d’Urbervilles‘, and I said I was sure it was by somebody else. Hardy hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt und nur Yes, Sir, that was the name of one of my novels gesagt. Vielleicht hätte sich David weniger um die Knöpfe und mehr um die englische Literatur kümmern sollen.

Heute [20. Januar 2011] vor 75 Jahren starb sein Vater George V. Der einmal gesagt hatte – und das war schon recht weitsichtig von ihm: After I am dead, the boy will ruin himself in 12 months. Nicht einmal die zwölf Monate hat er es auf dem Thron ausgehalten. Sein Vater ist nicht ganz unschuldig an dem, was aus seinen Söhnen geworden ist. Der wunderbare Satz von George My father was afraid of his mother, I was frightened of my father, and I’m damned well going to see that my children are frightened of me ist wahrscheinlich so nicht gesagt worden. Er beschreibt aber, se non vero è ben trovato, die Situation im Schloss von Windsor seit den Tagen von Königin Victoria. Man kann über Edward VIII lächeln, man kann ihn aber auch als eine tragische Figur sehen. Soll ich noch einmal ➱Larkins They fuck you up, your mum and dad zitieren?

Als Edward VIII abdankte, entstand da, wo er eines Tages einmal Gouverneur sein würde, ein Calypso (➱hier von Lord Caresser gesungen), der später durch Harry Belafonte bekannt wurde. Der Calypso It was love, love alone, caused King Edward to leave his throne zeigte, dass diese Musikform ja einmal eine politische Kommunikationsform gewesen war. Was den englischen Kolonialherren nie so recht gefallen hat. Und ich glaube, dass dieser Calypso dem Herzog von Windsor auch nicht gefallen hat:

It was love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

On the 10th of December we heard the talk

He gave his throne to the Duke of York

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

King Edward was noble, King Edward was great

it was love that caused him to abdicate

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

He said he was sorry that his Mommy would grieve

he cannot help it, he would have to leave

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

You can take his power you can take his bought

leave him with his yachting boat

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

You can take his money you can take his store

but leave him that lady from Baltimore

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

I don’t know what Mrs Simpson got in her bone

that caused the king to leave his throne

It was love, love, love, love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

On the 10th of December 1936

the Duke of Windsor went to get his kicks

It was love, love alone

Caused King Edward to leave his throne

It was love, love, love, love,

love, love, love, love

love, love, it was love, love alone

Caused King Edward to leave his throne.

Ich mag eigentlich Philip Ziegler als Biographen nicht so sehr (langweiliger Stil, kein panache), aber sein Buch King Edward VIII: The Official Biography von 1990 bleibt wohl vorerst das Standardwerk. Viel amüsanter sind die Tagebücher von Sir Alan Lascelles, der einmal Privatsekretär des zukünftigen Königs war. Faszinierend ist das Buch The Last of the Duchess von Lady Caroline Blackwood, das die Zeit des Herzogs (und natürlich der Herzogin) im selbstgewählten Pariser Exil beschreibt. Über die als „Dokumentation“ apostrophierte Peinlichkeit, die das ZDF vorgestern gesendet hat, möchte ich nichts sagen. Es war aber ein trauriger Versuch, journalistisch Bild und Bunte noch zu unterbieten. Über den Herzog von Windsor als Ikone der Herrenmode werde ich bei Gelegenheit noch einmal etwas schreiben. Nicht jetzt, weil ich das Gefühl habe, dass dieser Blog in den ersten Wochen des Jahres schon etwas modelastig geworden ist. Was mir allerdings auf den Seiten des Stilforums den Satz Jay produziert so ziemlich das Brillanteste, was es im deutschsprachigen Blog-Universum zu lesen gibt eingetragen hat. Das höre und lese ich natürlich gerne.

Hier steht der Herzog von Windsor im Garten seines Hauses in Frankreich und blinzelt in die Sonne. Unter seinem linken Knie sieht man ein blaues Bändsel, eigentlich gehört da der Hosenbandorden hin. Wahrscheinlich war der gerade im Safe. Oder schon versetzt? Er läuft normalerweise nicht so herum, aber drinnen im Haus sitzt ein Maler, der ihn als Ritter des Hosenbandordens malen soll. ➱David schnappt nur mal nach Luft. Wenn ich in dem Post Edward VIII sagte: Über den Herzog von Windsor als Ikone der Herrenmode werde ich bei Gelegenheit noch einmal etwas schreiben, dann habe ich das irgendwie wahr gemacht. Sie könnten jetzt auch noch die Posts ➱Guinness, ➱Etiquette, ➱Uniformen, ➱Tab Kragen, ➱Haikragen, ➱Hosenumschlag, ➱Wildlederschuhe, ➱Kiton/Chiton, ➱George IV, ➱Lisbeth, ➱Charles und ➱Walter Sickert lesen.

 

Bekommt man viele Leser, wenn man einen Post Gauland betitelt? Oder schreckt es die Leser ab? Der Name Gauland hat ja etwas Negatives, aber neuerdings redet jeder über ihn. Es ist die silly season, und da passt der Gauland prima, silly ist er auf jeden Fall. Wie gebannt starrt die Presse auf einen 75-jährigen Herrn in karierten Jacketts, der bei ➱Anne Will als ein Objekt aus einer anderen Zeit vorgeführt wurde: Im weiteren Verlauf des Abends bot Gauland allerdings weitere Wissens- oder Wahrhaftigkeitslücken, derart dass man zu schwanken begann zwischen Verwunderung über das inzwischen im Fernsehen Sagbare und einem gewissen Bedauern für einen bitteren Mann, der die Nationalmannschaft von 1954 als die letzte klassisch deutsche erinnert und eventuell noch die von 1974 mit Müller und Maier. 

An die Mannschaft von 1954 kann ich mich noch gut erinnern, eine Hälfte davon habe ich im Volksparkstadion gesehen, als Kaiserslautern 1954 gegen Hannover unterging (lesen Sie dazu ➱1954 und ➱Hannover 96). Aber ich habe 1954 auch den Franzosen Ben Barek gesehen und für ihn geschwärmt. Auf die Idee wäre Gauland wohl nicht gekommen. Der Fußballexperte der AfD hat allerdings von den Franzosen gelernt: die beiden Le Pens haben ihre Nationalmannschaft schon vor Jahren beleidigt. Selten erinnert die Presse heutzutage an die Gauland Affäre. Die habe ich in dem Post ➱ächt deutsch erwähnt, Gauland hat damals unter Eid gelogen. Und lügen tut er immer noch. Auch wenn er da oben vor einem Plakat sitzt, das Mut zur Wahrheit verspricht.

Ich hatte am Wochenende ein nagelneues fettes BMW Cabrio vor mir auf der Straße. Nummernschild: Potsdam. Da habe ich mir gedacht, dass das ein Nachbar von Gauland sein muss. Denn der wohnt in Potsdam, nicht in Kreuzberg, wo ➱Texas-Willi mal Bürgermeister war (und ich mal eine Woche Streetworker war). Ein wenig weiter von Herrn Gauland wohnen Günther Jauch und ➱Wolfgang Joop (die Villa Rumpf ist inzwischen in Villa Wunderkind umgetauft worden). In diesen schmucken Häusern, die man auf dem Photo sieht, wohnt der AfD Politiker natürlich nicht, das sind die Plattenbauten im armen Süden von Potsdam. Aufgerüscht, aber immer noch Plattenbau.

Wenn man in Potsdam wohnt, dann wohnt man hier. Leider sind das alles ein klein wenig kriminelle Bausünden, die den Status des Weltkulturerbes gefährden. Das interessiert Alexander Gauland natürlich genau so wenig wie die Plattenbauten, die kennt er ja noch aus seiner Jugend. Er kommt aus Chemnitz, angeblich dem feinen Teil von Chemnitz. Aber das hat er hinter sich gelassen, jetzt gibt er den Weltmann mit dem englischen Jackett, der in Il Teatro seinen Rosé schlürft.

Die Bausünden von Berlin fielen solange nicht auf, als es die DDR und die Mauer gab. Da musste Berlin am Leben erhalten werden. Da konnten Millionen verschleudert werden. Da wanderte selbst diese Blondine (die mal mit dem Texas-Willi verheiratet war) nicht ins Gefängnis, obgleich sie da eigentlich hingehörte. Das Photo hier zeigt sie vor dem Untersuchungsauschuss zum Steglitzer Kreisel.

Die Blondine oben wirkt kein bisschen schuldbewusst, er hier dagegen schon. Das ist Alexander Gauland im Hessischen Parlament zur Zeit der Affäre, die seinen Namen trägt. Wir beachten bitte das furchtbare karierte Jackett und den seltsamen Schlips. Ich bin ein Produkt der Umerziehung, hat der Mann aus Chemnitz gesagt, den es nach dem Westen drängte: der Westen hatte eine geistige Dimension und die fand ich in London und Washington, in Edinburgh und San Franzisko. Und jetzt in Potsdam.

Berlin und Umgebung haben immer aus Bausünden und Gegensätzen von Arm und Reich bestanden. Ich kann da nur die Lektüre des Buches von Werner Hegemann Das steinerne Berlin: Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt empfehlen (man kann bei Google Books eine ganze Menge von dem Klassiker lesen). Auf der anderen Seite gibt es die Bücher von Harry Balkow-Gölitzer, die kulturgeschichtlich für die feinen Viertel wie Dahlem und Lichterfelde etc. manchmal ganz interessant sind. Über Potsdam hat er keinen Band geschrieben. Was wohl daran liegt, dass eine Gegend wie Wannsee als Wohngegend schon länger fein war als Potsdam.

Potsdam war Friedrich der Große, Sanssouci und eine Militärstadt (öde Kasernenstadt hat Alexander von Humboldt gesagt), aber da wohnte man nicht. Man wohnte eher in Wannsee. Gegründet als Sommersiedlung von dem Entrepreneur Wilhelm Conrad, der dafür sorgte, dass es sogar eine eigene Bahnlinie gab, die Wannseebahn (die später auch bis Potsdam ging). Bekam nach ihrem Schöpfer Conrad sofort den Namen Wahnsinnsbahn auf Conrädern oder auch Bankierszüge. Im Sommer bezog die feine Berliner Gesellschaft ihre Residenz in den Villenkolonien. Mein Freund Jimmy wohnt noch immer in dem Haus, das sein Großvater einst in Wannsee als Sommersitz hatte bauen lassen.

 

Alexander Gauland ist bei seinen Nachbarn nicht sonderlich beliebt: Keiner hier möchte Herrn Gauland als Nachbarn haben. Der hat hier den Spitznamen Gauleiter. Den Nachbarn kann geholfen werden. Die Firma Sixt bietet LKWs für den Umzug mit dem Werbespruch Für alle, die einen Gauland in der Nachbarschaft haben an. Ende April hat man die repräsentative Villa (die allerdings kleiner als die Villa von ➱Oskar Lafontaine ist), in der Herr Gauland eine große Wohnung hat, mit Farbbeuteln beworfen.

Es ist eine kleine Ironie unserer Zeit, dass ich just in dem Augenblick über ➱Erwin Kostedde schrieb, als am nächsten Tag Gaulands Äußerungen über Boateng in den Zeitungen standen. Erwin Kostedde war der erste Farbige in der deutschen Nationalmannschaft, er hatte damals viel auszuhalten. Die Gaulands dieser Welt gab es schon immer.

Den Jérôme Boateng kennt Gauland natürlich gar nicht, er wusste auch nicht, dass der ein Farbiger ist. Hat das arme unschuldige Opfer der Lügenpresse, der natürlich ein Biedermann und kein Brandstifter ist, am Abend bei Anne Will gesagt (es gibt hier eine schöne ➱Zusammenfassung). Was er dort zu sagen hatte, war zum Teil schreiend komisch. Wenn es nicht so traurig wäre. An das Niveau von Bilgin Ayata kam er nicht ansatzweise heran. Und dabei gilt er als der Intellektuelle seiner Partei. Das auf dem Photo ist nicht der echte Jérôme Boateng, das ist der CDU-Abgeordnete Sven Petke vor drei Tagen im Potsdamer Landtag.

Dies ist auch nicht der echte Jérôme Boateng, aber er heißt auch Boateng, Ozwald Boateng. Der trägt keine karierten Tweedjacketts. Der spielt nicht Fußball, der macht rattenscharfe Anzüge für englische Gentlemen, wenn es sein muss auch mit Karos. Die ➱Königin hat ihm den Order of the British Empire verliehen. Er ist Millionär wie Jérôme Boateng, in seiner Nachbarschaft wird es wohl keine Gaulands geben. Da wir gerade in England sind, hätte ich Herrn Gauland noch Paul Boateng anzubieten, der der jetzt Lord Boateng ist. Ich will damit nur andeuten, dass alle diese Boatengs berühmter sind als Herr Gauland. Dass sie allerdings keine karierten Jacketts tragen.

Der Herr Gauland trägt auch kurzärmlige Hemden mit Schlips. Hier könnten wir eigentlich jetzt schon aufhören. Wenn man kurzärmlige Hemden mit Schlips trägt, dann ist man gesellschaftlich erledigt! Die kurzärmligen Hemden verschwinden bei Gauland normalerweise unter karierten Jacketts, die er ➱Sommer wie Winter trägt. Er ist ja so anglophil, der Spiegel hat ihn in einem Artikel als ➱Dr Tweed bezeichnet. Darauf möchte ich heute eingehen. Nicht jeder findet ihn in diesen Jacken so großartig: Könnten „die Leute“ dem Gauland nicht mal flüstern, dass seine dicken braunen und allzu oft karierten Tweed-Jacketts ihm nicht gerade stehen? kann man im Internet lesen.

Die karierten Jacketts trug er schon, als er noch Staatssekretär in Hessen war. Damals fuhr er einen Mini Cooper, heute einen Jaguar. Weil er so anglophil ist. Den Jaguar parkt er immer im Halteverbot, weil er er eben ein Herrenmensch ist: Parkverbote finde ich lässlich. Die kann man auch brechen. Leider wird er immer von diesen Knallchargen von Polizisten aufgeschrieben. Er war mal drei Wochen in England, war aber auch ein Jahr Presseattaché am deutschen Generalkonsulat im schottischen Edinburgh. Hat der Dr Tweed jemals Fontane Jenseit des Tweed gelesen? Oder das wunderbare Major Thompson entdeckt die Franzosen? Das ist ein Werk der Satire, die Illustration auf dem Umschlag auch. Nicht alle Engländer sind so kariert.

Der Aufenthalt in Schottland verstärkt Gaulands Hang zum Britischen, der nicht zuletzt begründet wird durch das BBC-Radioprogramm, das er in der Ostzone hört; von dort flieht er als Achtzehnjähriger. Gauland fährt britische Autos und trägt Glencheck-Sakkos. Bis heute, gegen jeden Modetrend, schreibt die FAZ. Das Photo zeigt ihn in der Zeit, als er noch der Schlattenschammes von Wallmann war. Offensichtlich hat man ihm in Schottland nicht erzählt, dass man niemals weiße Hemden zu Tweedjacketts trägt.

Gauland hat auch ein Buch über das Haus Windsor geschrieben, ist allerdings in seinen historischen Ausführungen in dem steckengeblieben, was man Whig historiography nennt. Also im 19. Jahrhundert, das scheint dem Mann, der Deutschland in eine Melange aus Bismarck-Reich und arischer Nation zu verwandeln will (sagt die FAZ), das liebste zu sein. Gaulands Schriften zu England sind bei mir schon lange aus dem Regal in die blaue Tonne gewandert. Ein englischer Forschungsbericht beschrieb das Buch über die Windsors folgendermaßen: This highly impressionistic account of the English and British monarchy from the Middle Ages to the present is written for a popular market. Mehr braucht man nicht zu sagen.

Gaulands Jacketts sind ein vestimentäres Symbol, wahrscheinlich ist der Adelsexperte der ARD ➱Rolf-Seelmann Eggebert sein Vorbild bei der Kleidungswahl gewesen. Über dessen Jacken redet niemand, weil man ihn schon beinahe für einen Engländer hält (die Queen hat ihm auch englische Orden verliehen). Doch Gauland, geistiger Nachfolger von Thilo Sarrazin, hat es geschafft, dass man ihn mit seinen Jacketts identifiziert:

Insofern war es kein Wunder, dass Gauland am Sonntagabend die Tweed-Rüstung überstreifte, sein anglophiles Jackett, und aus Potsdam zu Anne Will nach Berlin kam. Schlafen kann er ja wahrscheinlich sowieso nicht, weil er selbst in der Nacht an sein überflutetes deutsches Land denkt. Jedenfalls kamen Gauland und das Jackett zu Anne Will, um über Gauland und über Fremdenfeindlichkeit zu reden, was nach Auffassung seiner Kritiker beinahe dasselbe ist.

Also, dieser Herr hier darf das tragen, bei ihm ist das keine Rüstung. Irgendwo auf dem Lande kann man so herumlaufen. Wir sehen aber, dass er kein weißes Hemd trägt. Das Tweedjackett von Charles sitzt wie eine zweite Haut, das von Gauland schlabbert nur herum. Der Held des Romans Brideshead Revisited muss sich, kaum in Oxford immatrikuliert, von seinem Cousin sagen lassen: Clothes. Dress as you do in a country house. Never wear a tweed coat and flannel trousers—always a suit. And go to a London tailor; you get better cut and longer credit. Keine Tweedjacketts! Und Debrett’s Etiquette and Modern Manners sagt dazu: A combination of sports jacket and flannel trousers in town usually means the wearer is an American or European.

Für ➱Friedrich Sieburg war das anders, bei ihm konnte man 1961 in der Essaysammlung Lauter letzte Tage lesen: Es ist bezeichnend, daß die vor ungefähr dreißig Jahren von England übernommene Gewohnheit der Flanellhose mit der andersfarbigen Tweedjacke, die keine endlosen Variationen zuläßt, niemals monoton wirkt und für den Mann heute nahezu die einzige Möglichkeit bietet, sich gut und persönlich anzuziehen. Der Kontrast zwischen Hose und Rock und vor allem die verschiedenen Stoffqualitäten des letzteren sind Gelegenheiten, noch eine freie Wahl zu üben. Und dieser Herr darf natürlich karierte Jacken tragen wie er will – er hat sie erfunden: I believe in bright checks for sportsmen. The louder they are the better I like them. Aber mit Blick auf Gauland sei gesagt: quod licet Iovi non licet bovi.

Sind Sie wirklich sicher, dass das Jackett zu Ihrer Hose passt? fragt Marlene Dietrich ➱Gary Cooper in dem Film Desire. Da sind die großen Karos schon nach Hollywood gekommen. Weil ja beinahe alle Stars einen Schneider in London hatten, häufig denselben (zum Beispiel ➱Frederick Scholte), der auch die Klamotten für den Prince of Wales machte. Der Film ist aus dem Jahre 1936. Es ist das Jahr, in dem Werner Hegemann im amerikanischen Exil stirbt (und Gaulands Vater seinen Posten als Polizeichef von Chemnitz verliert). Da war Alexander Gauland noch nicht geboren, aber damals bestand die deutsche Nationalmannschaft noch aus weißen Deutschen. Wahrscheinlich möchte Gauland in diese Zeit zurück.

Doch ist das wirklich englisch? Die Verkäufer bei Ladage & Oelke in Hamburg, die den Kunden überteuerte Jacketts von Eduard Dressler mit dem Hinweis echt englisch verkaufen, werden das bejahen. Bei Cordings und Bladen ist man darauf vorbereitet, dass Touristen so etwas kaufen. Allerdings gibt der Untergang der Firma Dunn & Co doch zu denken. Der größte Verkäufer von Tweedjacketts in England veröffentlichte nämlich vor zwanzig Jahren eine Erklärung, dass man den Geschäftsbetrieb einstellen würde. Die Klienten stürben langsam weg. Und die noch lebten, dächten bei der Langlebigkeit eines Dunn & Co Jacketts nicht an einen Neukauf (die Firma dachte dabei wohl an Menschen wie Herrn Gauland).

Allein von der Ausstattung von ➱Rosamunde Pilcher Filmen und englischen TV Serien mit Tweed Jacketts konnte die Firma nicht leben. In Fernsehserien wird noch das karierte Jackett propagiert. Auf den grassierenden ➱Tweed Runs auch. Dieser Herr hier wird sich sehr englisch vorkommen, aber eigentlich ist er nur eine Karikatur der Englishness. Ich zitiere dazu Kennedy Frazer, die einmal im New Yorker schrieb: Englishness or Americanness is as accessible to the French, the Italians, or the Japanese as it is to the fashion designers or the inhabitants of its country of origin… 

This Englishness is once removed from the modern, postwar Britain they [fashionable British young people] grew up in. It is a confident, insular, countrified style filtered down through nostalgic films, television programs, and advertisements. It is only one of the styles that British fashion designers work in, and it is not necessarily their most colloquial or their most authentic. They examine Englishness partly in response to foreign enthusiasm for it. Just as the French or the Italians give anglophilia their particular signature, the British regard it in their own way, with an attitude that is inevitably tinged with irony. Sometimes fashionable young British people see Englishness as a purely foreign idea and prefer to buy it in a French or Italian Version. Ich weiß, dass das schon in Trenchcoats stand, aber ich wiederhole es gerne.

Ein Jahr nachdem Gary Cooper sein kariertes Jackett in Desire trug, reist der junge Tierarzt James Herriot nach Darrowby in den Yorkshire Dales zu dem Tierarzt Siegfried Farnon, der ihm eine Anstellung als Assistent angeboten hat. Ich rede natürlich von ➱Der Doktor und das liebe Vieh, einer Serie mit viel Tweedjacketts. Wenige so kariert wie das von Gauland. Auch in diese Welt passt er nicht, selbst wenn er gelbe Hunde auf seinem dunkelgrünen Lieblingsschlips hat. Wo bringen wir ihn bloß unter?

Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen, und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann (Goethe, Wilhelm Meister).

Wenn Sie noch mehr zum Thema Gauland lesen wollen, sind Sie in diesem Blog falsch. Wenn Sie noch mehr zum Thema Englishness lesen wollen, sind Sie in diesem Blog goldrichtig. Lesen Sie doch: 18th century: Fashion, Trenchcoats, overcoats, Sportjackett, Inspector Barnaby und die Mode, Rückenschlitze, Beinkleider, Notting Hill, Mr. Stringer, Kulturwandel, P. G. Wodehouse, Royal Flying Corps, Querbinder, Trevor Howard, Tänzer, [‚bɜ:bərᴗi], Herrenausstatter, TyroneDerrick, The Go-Between, Haikragen, saudade

 

Au revoir Angelique, titelte meine örtliche Zeitung, die Angelique Kerber aus Kiel war gerade in der ersten Runde in Paris rausgeflogen. Gleichzeitig mit dieser Schlagzeile bekam ich von einer Bekannten ein Bild von Marcel Proust mit einem Tennisschläger zugeschickt. Das verlockt doch, mal eben etwas über Tennis zu schreiben. Das hier ist natürlich nicht das Stade Roland Garros in Paris (das ja nach einem Fliegerhelden benannt wurde, lesen Sie mehr in ➱Piloten), das hier ist ein court für real tennis. 

In der Folge Old School Ties versucht Sergeant Hathaway seinem ➱Inspector Lewis zu erklären, was real tennis sei. Und was spielen sie in Wimbledon? Digitales Tennis? fragt Lewis. Das real in real tennis hat nichts mit unserem Wort real zu tun, eher etwas mit Real Madrid. Es bedeutet schlichtweg royal. Und es ist der Beginn des Tennis. Wo und wie der Philosoph Thomas Hobbes Tennis gespielt hat, weiß ich nicht, aber ich nehme an, dass es auch ein real tennis court gewesen ist.

Der Star in meinem Tennisverein war Charlie. Eigentlich hieß er Volker, aber jeder nannte ihn Charlie. Wir waren ja so amerikanisch. Schließlich waren wir seit Kriegsende eine ➱Amerikanische Enklave. Ich war mit Charlie in der Volksschule, und er war auch mit uns in Frankreich dabei, als wir den Friedhof in ➱Ailly-sur-Somme wieder herrichteten. Er trug dazu bei, dass wir die Fußballmannschaft von Ailly-sur-Some zweistellig besiegten. Ich glaube, er schoss auch damals das einzige Tor, als wir in Nykøbing in Dänemark 9:1 untergingen. Die neun Tore der Dänen gehen auf meine Kappe, aber ➱Dragomir Ilic hätte die auch nicht gehalten.

Charlie war einer der besten Spieler in unserem Tennisverein. Und der Mittelstürmer beim SAV. So sportlich er war, für die Bundeswehr war er dienstunfähig, weil ihm der Tennisarzt ein Gefälligkeitsgutachten ausstellte. Charlie ist beim Sport geblieben, er ist später bei der ARD ein großes Tier geworden und war immer auf dem Bildschirm zu sehen. Ich habe mal versucht, ihn dafür zu gewinnen, eine Sendung über ➱Cricket zu machen, aber ich konnte ihn nicht überreden. Georg hatte beim NDR mehr Erfolg. Die haben mit seiner Hilfe einen kleinen Film gedreht. Als er gesendet werden sollte, wurde er nicht gesendet. Weil Sepp Herberger gestorben war. Sepp Herberger ist wichtiger als Cricket.

Das erste Jahr im Tennisverein spielten die Junioren kein Tennis. Der Verein spendierte uns zehn kostenlose Trainerstunden und erwartete von uns, dass wir die Plätze bei Turnieren in Ordnung hielten, Balljungen und Schiedsrichter waren. Wir lernten, einen Tennisschläger neu mit Darmsaiten zu beziehen, und wir waren Meister im Kreiden der Linien. Aber Bälle schlugen wir nicht über das Netz. Dieses Lehrjahr war natürlich nützlich, im Weser Yacht Club war das im ersten Jahr der Vereinzugehörigkeit ähnlich: Boote abschleifen und anpönen. Und Seemannsknoten knüpfen. Tennis wurde damals noch in weiß gespielt, lange weiße Hosen waren bei Senioren häufig anzutreffen. Ich fing mit einem Dunlop Gold Wing an, träumte aber von einem Dunlop Maxply (Bild), einem Schläger, der heute als old skool woodie bezeichnet wird. Ich habe den Schläger immer noch.

Für das Vereinsleben habe ich mich nie wirklich interessiert, weder in meinem Heimatort noch hier. Einmal hat mich mein Kieler Verein zu einem Knabenturnier zur Tennis Gesellschaft Düsternbrook geschickt, ich möchte mal nach dem Rechten sehen. Tat ich. Da war ein missratenes Kind, das sich diese auf dem Platz randalierenden Rowdies wie John McEnroe (hier mit Björn Borg) zum Vorbild genommen hatte. Kickte Cola Dosen über den Platz, warf seinen Schläger ins Netz. Ich bin in einer Spielpause zu ihm hin und habe ihm gesagt: Pass auf, Du kleiner Pisser. Wenn Du noch einmal mit dem Schläger wirfst oder irgendwas Ähnliches machst, dann hole ich Dich vom Platz. Während des Spiels. Es war eine Sprache, die er nicht gewöhnt war. Zeigte aber Wirkung. Am Abend hatte ich einen Anruf vom Vorsitzenden meines Vereins, der mir referierte, was die Eltern des Kindes ihm gesagt hätten. Und das Ganze mit dem Satz schloss: Jay, ich bin Ihnen ja so dankbar.

Die amerikanischen Rüpel wie McEnroe und Konsorten auf den Tennisplätzen (und auch unser BummBummBecker war ja nicht unbedingt ein Vorbild) gaben dem Sport, der sich ja immer bemühte etwas Vornehmes zu sein, eine neue Dimension. War nix mehr mit royal. Ende der fünfziger Jahre hat mich ein Freund meines Vater einmal zu einem Tennisturnier am Rothenbaum mitgenommen. Es war kalt, Regen lag in der Luft. Auf den Holzbänken fröstelte ein Dutzend älterer Herren im Burbery, die Spieler trugen lange weiße Hosen. Old Skool wie man heute sagt. Heute ist das German Open eine Massenveranstaltung, bei der niemand mehr stilvolle weiße Kleidung trägt.

Franz W. Koebner formulierte die Gesetze der Kleidung 1913 in seinem ➱Buch Der Gentleman so: Auch bei den Herren der Schöpfung findet das Weiß immer mehr Anklang, mag man nun den weißen Flanellanzug oder das weiße Beinkleid zum dunkelblauen Jackett vorziehen (nur sollte man keine braunen oder – noch fürchterlicher – lacklederne Schuhe dazu tragen!). Natürlich gibt es Tennis und Tennis. Tennis auf Privatplätzen, wo die Bälle so bedrohlich hoch in die Luft gehen, daß man für die Fensterscheiben der Nachbarschaft fürchtet und Tennis auf öffentlichen Turnierplätzen, wo die Bälle centimeterhoch über das Netz sausen, wo die Spieler ein Meter hinter den Strich treten und jeder Ball eine viertel Stunde lang gespielt wird.

Dr Bach, der mich nach Hamburg mitnahm, spielte selbst nicht Tennis, versäumte aber kein Turnier: Während man in Berlin auf den Plätzen der großen Klubs, besonders auf den reizend im Grunewald gelegenen Plätzen des Berliner Lawn-Tennis-Turnier-Klubs, ziemlich dasselbe Bild findet; wo die Spieler mit Hilfe von Berufstrainern in angestrengter Arbeit sich für die Wettspiele vorbereiten, und im Sommer, nachdem das große Berliner Pfingstturnier den Reigen eröffnet hat, ihre Reise nach all den Plätzen machen, wo wertvolle Preise dem Sieger winken: Heiligendamm, wo nicht jeder beliebige Sterbliche an dem Turnier teilnehmen darf, das fast regelmäßig vom Kronprinzen und anderen höchsten und hohen Herrschaften durch aktive Teilnahme ausgezeichnet wird, sondern wo es einer Aufforderung durch das Komitee bedarf; Warnemünde, Heringsdorf. Zoppot, Hamburg, Homburg, Wiesbaden, Baden-Baden und wie sie alle heißen.

Ich wäre als langjähriger Straßenfußballer lieber in den Fußballverein statt in den Tennisverein gegangen. Ich hatte ➱Camus noch nicht gelesen, der gesagt hatte: Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball. Über Tennis kann man das nicht sagen, der Sport erzieht nur zum Egoismus. Aber Fußballverein war für meinen Vater, der vor dem Krieg beim Bremer Sport Verein gespielt hatte und jedes Wochenende mit mir zum Fußball ging, keine Option. Also spielte ich Tennis. Hatte einen mickrigen Aufschlag, aber eine grandiose Rückhand. Und natürlich weiße Kleidung und ein gutes Benehmen. Alles, was ich beim Tennis gelernt hatte, konnte ich an anderer Stelle gebrauchen: ich habe jahrzehntelang kein Tischtennisspiel verloren. Wenn Sie von mir eine Kulturgeschichte des Tennissports erwartet haben, muss ich Sie enttäuschen. Habe aber einen schönen Literaturtip: Theo Stemmler Vom Tennis: Kleine Geschichte des Tennisspiels.

Und eine hübsche Geschichte habe ich auch noch, bevor ich zu Marcel Proust und seinem Tennisschläger komme. Sonntagmorgen, Ende der fünfziger Jahre. Tennisturnier auf den Plätzen des VTV im Vegesacker Stadion, das einst ➱Ernst Becker-Sassenhof gebaut hatte. Die Zuschauer sonntäglich gekleidet, bis auf diesen leicht angeschickerten Sailor, der sich wie ein Affe im Zoo an den Maschendraht des Platzes gehängt hat und das Spiel kommentiert. Auf den West Indies habe er ein viel besseres Tennis gespielt, wiederholt er immer wieder.

Nach einer Viertelstunde wird es dem Vorsitzenden des Vereins zu viel, er geht zu dem Sailor und sagt, wenn er so gut spielen könne, dann könne er ja gegen den Sieger spielen, wenn das Match hier vorbei sei. Der Mann von den West Indies bedankte sich und war fortan ruhig. Als die beiden Herren auf dem Platz ihr Spiel beendet hatten, bat man den Mann von den West Indies auf den Platz. Man hatte ihm zuvor weiße Shorts und ein weißes Hemd angeboten, aber er lehnte das ab, er trug diese beige-gelben ➱Hosen, die die Handelsmarine trägt. Kriegte man bei uns beim Schiffsausrüster in der Hafenstraße. Er ging auf den Platz, begrüßte höflich seinen Gegner, spielte sich mit einigen Bällen ein und …. Sie ahnen jetzt was kommt: Er fegte die Nummer fünf der Rangliste 6:1 vom Platz. Gab den Schläger zurück und verließ leicht torkelnd das Stadion. Vielleicht war das das Ende des Tennis in meinem Heimatort. Der Verein machte vor zwanzig Jahren Pleite, das ganze Stadion ist herunter gekommen. Man kann das symbolisch an diesem vergammelten Schild ablesen.

Hundert Jahre vor dem Ende meines Vereins ist das Tennis der fashionableste englische Import der Pariser feinen Gesellschaft. Man mag die Engländer zwar nicht so sehr, schließlich hat man ja mal einen hundertjährigen Krieg gegen sie geführt, aber jetzt sind sie gerade mal chic. 1886 eröffnete das Luxusgeschäft ➱Old England am Boulevard des Capucines. Marcel Proust, der englische Schlipse der Firma ➱Liberty trägt, kauft sich bei Old England seine Schuhe. Schwarze geknöpfte Lackstiefel, Halbstiefel natürlich. Nichts anderes (Sie können ihn mit solchen Schuhen in dem Post ➱Morning Coat sehen). Einmal hat ihm seine Haushälterin Céleste Albaret ein Paar Leinenstiefel gekauft, nicht bei Old England. Erstaunlicherweise haben sie ihm gefallen.

Vielleicht kommt dieses Outfit, das er hier für den Tennisplatz trägt, auch von Old England. Allerdings sollten wir jetzt vorsichtig sein und unseren Marcel nicht zu einem Tennisspieler machen. Er hat nie Tennis gespielt. War ihm zu brutal. Dabei kannte er das Benehmen von John McEnroe und die Aufschläge von Ivan Lendl noch gar nicht. Es genügte Proust, bei den Tennisspielern dabei zu sein, wenn nur die angehimmelte Jeanne Pouquet dabei war. In die war er verliebt, wie er später Céleste erzählte:

Ich war in sie verliebt, wie man es nicht mehr sein kann. . . . Ich konnte nicht mehr schlafen. Wenn wir vormittags zum Tennis gingen, nahm ich Proviant mit, kleine Kuchen und Sandwiches, für jeden Geschmack und in allen Farben ; ich wußte nicht, was ich anstellen sollte, um ihr eine Freude zu machen; ich kaufte ihr Blumen und Geschenke, ich gab mir so viel Mühe! Wenn ich mit ihr verabredet war, dann ging ich nicht, ich rannte! Wenn sie Tennis spielte, sah ich gern ihre blonden Zöpfe fliegen… Im Gegensatz zu Proust habe ich in Jahrzehnten des Tennisspiels dort nie eine schöne, interessante Frau kennengelernt. Das Bild rechts hat Jean Cocteau gezeichnet. Die Flasche in der Manteltasche ist eine Evian Wasserflasche, die Proust immer dabei hatte. Auch Tennisspieler sind heute nichts ohne Wasserflasche.

Vielleicht mag ich Tennis deshalb nicht so besonders, weil es da keine hübschen Frauen gab. Aber vielleicht redet in dem Zitat auch nicht der wirkliche Proust, sondern nur der Romanautor. Vielleicht ist die Tennisphase für Proust auch nur eine Phase auf dem Weg nach ganz oben. Der Mann, der aus der reichen französischen Bourgeoisie kommt, benimmt sich wie ein Neureicher. Er möchte in die französische Aristokratie, die längst keine Bedeutung mehr hat. Außer für ihren Chronisten Marcel Proust, der auf diesem Photo von Prinzen und Prinzessinnen umgeben ist.

Der französische Philosoph Paul Desjardins, mit dessen Sohn Proust auf der Schule war, hat über das Photo mit dem Tennisschläger gesagt, dass Proust wie ein persischer Prinz mit großen Gazellenaugen aussähe. Die Zeichnung hat Prousts Freund Paul Baignères im gleichen Jahr von ihm gezeichnet. Wir können auch die Lackstiefel erkennen, die Proust nach der Mode der Zeit mit ➱Gamaschen trägt. Ich kann mir den Mann, der sich seine Klamotten bei Carnaval de Venise am Boulevard de la Madeleine machen lässt (der Schneider kommt ins Haus), nicht mit Leinenstiefeln vorstellen.

Für Proust, der noch nicht der große Schriftsteller, sondern nur ein kleiner Snob ist, ist es wichtig, dabei zu sein, ein Teil dieser Welt der Tennisplätze am Boulevard Bineau in Neuilly zu sein. Wenn Proust die auf einem Stuhl stehende Jeanne Pouquet mit einer Tennisschlägerserenade anhimmelt, dann ist er zwar auf dem Boden, aber in Wirklichkeit ist er auf dem Weg nach oben. Sein Freund Gaston Arman de Caillavet hat gerade mit dem Tennisspielen begonnen, und Proust macht seine ersten Schritte in den Salon der Mutter, Madame Arman de Caillavet (Bild). Sein Freund Gaston wird übrigens die von Proust angehimmelte Jeanne Pouquet, und Proust wird alle Beteiligten in seine Recherche hineinschreiben. Natürlich kommt in dem Roman auch Tennis vor. Wenn Sie wissen wollen wo, dann klicken Sie ➱hier.

Mich hat beim Tennis immer dieser Aspekt gestört, dass sich viele im Verein einbildeten, etwas Besseres zu sein. Von daher ist der Düsternbrooker Verein einfach lächerlich, weil er sich Tennisgesellschaft nennt. Und signalisiert: wir sind was Feines, die hoi polloi bleiben bitte draußen. Die Sache mit dem Sailor von den West Indies war ein schönes Beispiel dafür, dass hier zwei Schichten aufeinander stießen. Ich hätte noch einen zweiten Seemann anzubieten, der auch Tennis spielte. Und der auch für eine Geschichte gut ist. Als die Engländer das Schiff von ➱Kapitän Ernst Biet im Zweiten Weltkrieg in der Nordsee versenkten, klagte der Kapitänleutnant der Reserve Biet, kaum aus dem Wasser gezogen, dem englischen Kommandanten sein größtes Leid: den Verlust seiner Tennisausrüstung. Weshalb, um Himmels willen, hatte er die 1942 überhaupt mit an Bord?

 

By the time I get to Phoenix
She’ll be rising
She’ll find the note I left hanging on her door
She’ll laugh, when she reads the part that says I’m leaving
Cause I’ve left that girl, so many times before
 
By the time I make Albuquerque
She’ll be working
She’ll probably stop at lunch,
And give me a call
But she’ll just hear that phone keep on ringing
Off the wall, that’s all
 
By the time I make Oklahoma
She’ll be sleeping
She’ll turn softly and call my name out low
And she’ll cry, just to think, I’d really leave her
Though time and time I’ve tried to tell her so
She just didn’t know,

 

I would really go
Damit ist ➱Glen Campbell einst bekannt geworden, ist schon beinahe ein halbes Jahrhundert her. Der Song fiel mir wieder ein, als ich bei ebay diesen schönen Wholecut Schuh von ➱Alfred Sargent sah. Artikelstandort: Phoenix. In der Artikelbeschreibung findet sich der Satz: I wore these shoes once for my wedding night 1 year ago and they have not been worn since. Daraus könnte man einen ganzen Roman machen. Natürlich wissen wir, dass man zu Hochzeiten einen ➱Morning Coat trägt und keinesfalls braune Schuhe. Oder gelbe. Wie der unglückliche junge Mann in ➱The Story of Cedric von P.G. Wodehouse. Aber Alfred Sargent (handgrade) Schuhe in der Hochzeitsnacht?
Für diejenigen Herren, die sich bezüglich der Schuhwahl für die Hochzeitsnacht nicht so sicher sind, hat der große Karikaturist ➱Ronald Searle (der auch einmal Reklame für ➱Church Schuhe gemacht hat) den ultimativen Vorschlag gemacht. Ich habe den Cartoon schon einmal in dem Post ➱Englische Herrenschuhe (London) gebracht, aber er ist ja immer wieder gut. Über die Marke der gent’s spiked running shoes ist nicht bekannt. Doch wie heißt es so schön in Shakespeares Hamlet? The readiness is all.

 

Als ich im letzten Jahr diese kleinen Portraits englischer Schuhfirmen schrieb, stellte ich in Aussicht, dass da noch mehr kommen würde. Aber dann schrieb ich erst einmal über italienische, portugiesische und französische Schuhe. Ich komme noch einmal zu den Engländern zurück (ich könnte natürlich auch noch über spanische Schuhe schreiben, aber bis das soweit ist, lesen Sie doch den Post ➱Kuckelkorn). Ich habe mir heute einmal die vor 150 Jahren gegründete Firma Grenson herausgepickt, die in der Vergangenheit ihren einstigen Ruhm arg beschädigt hat. Aber da tut sich heute einiges. Dies hier ist kein Schuh von Grenson, das ist ein Alfred Sargent, Modell Blenheim. Den habe ich mir inzwischen gegönnt. Qualitativ erstklassig, das Modell mit dem Namen von Churchills Geburtsort ist qualitativ auf dem Niveau von Edward Green.

Dieser Schuh ist nicht ganz auf dem Niveau von Edward Green, obgleich er einem Edward Green (oder einem Gaziano & Girling) sehr ähnlich ist. Er entstammt einer neuen Kollektion der Firma Grenson, hat den Modellnamen Kent. Wenn man etwas verkaufen will, dann muss das offensichtlich einen wohlklingenden englische Namen haben: Blenheim (sogar Loake hat ein Modell dieses Namens im Angebot), Kent, Westminster (gibt es bei Crockett & Jones) und wie sie alle heißen.

Wenn man dagegen seine Luxuslinie mit Totenköpfen verziert, wie Barker das tut, dann hat man ein Problem. Dann braucht man einen Imageberater, der den Chefs erzählt, dass man mit solchen Albernheiten nicht lange da oben bleibt, wo die Luft dünn ist. Und dünner wird. Jemand wie ➱Tim Little hätte ihnen helfen können, aber der Mann ist schon ausgelastet. Zum einen hat er eine eigene Schuhmarke und einen Laden in Chelsea (wo sonst?), zum anderen hat er gerade die Firma Grenson gekauft.

Bevor er sich der Welt der Schuhe zuwandte, hat er Firmen wie Dunhill, Tods und Gieves and Hawkes (und andere) beraten und ihnen geraten, sich neu zu erfinden. Er hat auch Adidas beraten und ihnen empfohlen, von dem Adi Dassler Image wegzukommen und stromlinienförmig wie Nike zu werden. Er hat damit eine Menge Geld verdient, so dass es für den Kauf einer Schuhfabrik in ➱Rushden (wo auch ➱Alfred Sargent beheimatet ist) reichte. Auf der Seite der British Footwear Association finden sich die Sätze:

Grenson was born in 1866 in Rushden, Northamptonshire. William Green, the founder, started making high quality shoes for London Gentlemen and was so successful that he soon had to build a factory and the company grew from there. Recently Grenson has undergone a new lease of life, helped by their focus on quality and modern design whilst never losing sight of their impressive heritage. Das mit dem  focus on quality and modern design war auch dringend nötig. Denn, seien wir ehrlich, die Masse dessen, was Grenson produzierte, war einfach nur scheußlich.

Obgleich sie auch immer hochqualitative Schuhe herstellten, wie zum Beispiel die Linie Grenson Masterpiece. Dr Sevan Minasian hat auf seinen hervorragenden Seiten ➱Classic Shoes for Men eine Menge Nettes über ➱Grenson zu sagen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich auch nichts Böses über die Firma sagen. Außer dem schönen braunen Modell Kent da oben habe ich nur einen Grenson Schuh, der allerdings den Namen Charles Tyrwhitt hat. Und der solide englische Qualitätsarbeit ist, er sieht nach zwanzig Jahren immer noch gut aus.

Das bringt mich mal eben zu einem kleinen Exkurs über die Firma Tyrwhitt, bei der das Angebot von wirklich englischen Schuhe in den letzten Jahren arg geschrumpft ist. Wenn man im Katalog genau hinschaut, sind es nur noch ein halbes Dutzend Schuhe, die aus Northampton kommen. Die haben alle diesen Absatz (oder einen Alan McAfee Absatz) und kosten 299 statt 600 Euro. Das sind natürlich reine Phantasiepreise, nennt sich MSRP. Glaubt wirklich irgendjemand, dass der ursprüngliche Listenpreis 600 Euro war? Bei Tyrwhitt gibt es nur durchgestrichene Preise.

Die Frage bleibt, wer stellt diese Schuhe her? Es ist eine Frage, die im Internet zahllose Foren beschäftigt. Ein Name, der (neben Barker, Cheaney und Sanders) immer wieder genannt wird, ist Loake. Doch die Firma Loake hat vor geraumer Zeit erklärt, dass man nur sehr wenige Modelle an Tyrwhitt liefere:

Loake has made shoes for Charles Tyrwhitt for some time and that has been common knowledge for some time. However, we now make only a handful of styles for them. Most of the shoes that Charles Tyrwhitt offer currently are NOT made by Loake and therefore the sweeping statement that Charles Tyrwhitt shoes are made by Loake is absolutely not correct. The four (only) styles that we now supply are basic black polished business shoes and they are roughly comparable to the Loake L1 collection. Because we have no first-hand knowledge of the other styles offered by Charles Tyrwhitt we cannot comment on where they sit in relation to other Loake collections.

Loake Schuhe kommen aus England, aber nicht alle. Vieles kommt auch aus Portugal. In seltener Freimütigkeit hat sich Andrew Loake (Bild) ➱hier zum Thema ➱Made in England geäußert. Das beginnt mit der Feststellung: Approximately 99% of all footwear sold in the UK is now sourced from overseas but it is interesting to note that, within the EU, there is currently no legal requirement to label goods with their country of origin. Consequently, most brands (including many “English” brands) do not mark their products with the country of origin.

Und endet mit den Sätzen: Anyone who makes anything in England will certainly want their customers to know where it’s made, so it will usually be labeled accordingly. I suppose the ‘rule of thumb’ should probably be: “if it doesn’t say on it that it’s made in England, you can probably assume that it isn’t”. Das gilt auch für Grenson, nicht für mein Modell Kent hier, der wurde in Northampton gefertigt und ist in der Grenson Nomenklatur G:One (darüber gibt es noch G:Zero). G:One ist auch die Qualität, die Grenson an Kunden wie Paul Stuart und Barbour liefert.

Aber die Linie G:Two, die kommt aus Indien. Grenson gibt das wenigstens zu: In order to make our shoes accessible to people who want to wear them, but don’t feel the need for the incredibly high levels of specification in G:ZERO and G:ONE, we developed the G:TWO spec. Designed by us in our studio, lasts developed in Northamptonshire by us, patterns developed by our pattern makers, leathers sourced by our leather buyer, prototypes made in our factory to final sign off and then taken to our partner, a beautiful handmade factory in India, where they are made and shipped back to us for inspection and final polishing where required. These shoes represent the most incredible value for money, every bit a Grenson shoe, at a price that doesn’t require a mortgage. 

Die Schnürbänder für alle Grenson Schuhe kommen aus Europa: Laces are all made in Europe as UK suppliers are sadly not available to our quality. Das gibt zu denken: die Engländer können keine Schnürbänder herstellen! Ich kaufe meine immer bei Langer & Messmer, die haben gute Schnürbänder im Angebot. Mein Freund Peter hat vor vielen Jahren einmal Schnürbänder bei John Lobb gekauft, er wollte einmal in dem Laden gewesen sein. Diese Grenson Anzeige ist schon etwas älter, aber wenn Sie einmal bei ebay den Namen Grenson eingeben, werden Sie viele Schuhe finden, die noch so oder so ähnlich aussehen.

Die Firma Grenson war länger als ein Jahrhundert im Besitz der Familie Green. Man gab sich nicht sehr auskunftfreudig nach außen hin, aber nach innen hin besaß man eine funktionierende Familienstruktur. Dieses patriachalische Modell, das viele englische Firmen, die zur Zeit von Königin Victoria gegründet wurden, groß und stark gemacht hat. Die hier ist die Cricketmannschaft von Grenson im Jahre 1947. Wenn Sie mehr über das englische Nationalspiel wissen wollen, dann klicken Sie doch mal den Post ➱Cricket an, haben schon mehr als 10.000 Leser getan.

In den frühen achtziger Jahren verkaufte die Familie Green die Schuhfabrik an Terry Purslow, der sie später an seinen Sohn Christian weitergab. Den Sohn kennt man besser als Managing Director von Liverpool, jetzt ist er bei Chelsea. Da gehört er hin. Gary Neville hat ihn mal a clueless fool genannt. Die Purslows sind ein Produkt der Thatcher Jahre, sie hatten keinerlei Ahnung von der Schuhherstellung, ihnen ging es nur darum, Geld zu machen. In den neunziger Jahren haben sie sogar die Firma ➱Herbert Johnson gekauft. Das hat vielen wehgetan. Es kommt jetzt, wie es kommen muss: es geht bergab mit Grenson. 1999 verkauft man 63 Millionen Paar Schuhe, fünf Jahre später sind es nur noch 14 Millionen. Da holte man Tim Little als Retter an Bord.

Der sofort erkennt: much of English shoe manufacturing is stuck on an old-fashioned, stuffy presentation, banging on about quality and nothing else. They understand manufacturing but not the market, because they have grown out of a time when that wasn’t required – not marketing in the sense of putting an average product in a fancy box but making the product fit the market. Als erstes wirft Little (der auch nichts gegen die Produktion von ➱Damenschuhen hat) die Mocassins aus dem Programm: And as far as I was concerned, the moccasin was dead from day one. Das lieben die Händler nun überhaupt nicht: They were telling me I was taking Grenson to the dogs – they felt like they had ownership of the brand. I felt like I was taking over a football club, given the reaction I got. 

Im Gegensatz zu den Vorbesitzern Terry und Christian Purslow, liebt Tim Little das Produkt, das er herstellt (hier im Bild ein Grenson G:0 Schuh): English shoes are among the best in the world, and it is a craft that is in danger of being lost… It’s all about having a product that’s relevant. English shoe manufacturers need to understand design and most don’t even have a designer. It’s just bizarre. I hope Grenson might be an example of the need to have someone who understands design and marketing. That doesn’t mean making wacky or weird shoes. It does mean realising that, although English shoes may be fashionable at the moment, that is not a trend these companies will be able to ride for long.

Die renommierten englischen Schuhfirmen liefern nur eine Qualität (vielleicht mit einer hand grade Qualität oben drauf, wie bei Crockett & Jones), sie haben keine Schuhfabriken in Indien. Die Grenson natürlich mit Made in India kennzeichnen muss. Allerdings bekommen diese kleinen Klebezettel – das haben Kunden beobachtet – sehr wenig Klebstoff. Sie sind schon abgefallen, wenn der Kunde den Schuh aus dem Karton auspackt. Da kann man sich dann nur an die Regel halten, die Andrew Loake formuliert hat: I suppose the ‘rule of thumb’ should probably be: “if it doesn’t say on it that it’s made in England, you can probably assume that it isn’t”.